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„Wir begrüßen die vier Ecken des Universums“

 

Die spanischen Konquistadoren haben sie verteufelt, zerstört und alle, die sie gehört oder gespielt haben, mit aller Härte bestraft. Zeit Jahrzehnten gewinnt música prehispánica immer mehr Anhänger nicht nur in Südamerika, sondern auch in Europa. Das Bonner Ensemble „Cuicatl“ (dt. „Gesang des Wassers“) widmet sich der Musik der Azteken, Maya und Olmeken – den Klängen, die ohne Notation von Generation zu Generation weitergegeben wurden.

Von Olesia Tolstova

Warmes, gedämpftes Licht im alten Gewölbe des Sinziger Zehnthofes. Die Strahlen der Scheinwerfer berühren die römischen Ziegel und lassen sich vom matten Trachytstein des Mauerwerks der ehemaligen Weinkellerei verschlingen. Es ist still im Gewölbe. Das Publikum schaut neugierig auf sechs Musikerinnen und Musiker, die in Gewänden nach aztekischer Tradition gekleidet sind. Vor den Künstlern stehen Trommeln in verschiedenen Formen und Größen, mit eigentümlichen Verzierungen am Holzkörper. Rasseln und Tonflöten ruhen in den Händen. Die Tänzerinnen halten inne, Tenabaris zieren ihre Hand- und Fußgelenke, das sind Lederriemen mit befestigten Samen des Schellenbaumes (Ayoyotl) und getrockneten Schmetterlingspuppen. Carlos Palomares holt tief Luft und bläst in die Öffnung in der Spitze einer großen Meeresmuschel. Es klingt wie eine Mischung aus Horn und Glasflasche. Das musikalische Ritual ist eröffnet. Die Schöpfer der Klänge bitten die Götter um die Erlaubnis, das Heiligtum der Musik in die Welt zu tragen. Dann schlägt Miguel Garcia auf Huehuetl – eine Stehtrommel und die Gruppe setzt sich in Bewegung. Weiche, meditative Schwingungen erfüllen das Gewölbe. Begleitet von schamanartigen Rhythmen ruft Miguel die Namen der Götter auf Nahuatl, der heute am meisten bekannten aztekischen Sprache. Viele Menschen im Publikum schließen die Augen und scheinen in einer Art Trance zu versinken.

„Mit der Caracol, der Meeresmuschel, begrüßen wir die vier Ecken des Universums“, sagt Carlos und fährt fort: „Was für die Europäer Beten ist, ist für uns Gesang und Bewegung“. Die Urvölker Mexikos hatten nicht die Angewohnheit, kniend auswendig gelernte Texte vor sich hin zu murmeln. Sie ehrten ihre Götter im Tanz, ergänzt ihn Miguel. Beide Musiker, Miguel und Carlos, stammen ursprünglich aus Mexiko und lernten sich 2013 in der Abteilung für Altamerikanistik der Universität Bonn kennen. Miguel Garcia spielte damals bereits in einer Rockband, als ihm Carlos „über den Weg gelaufen ist“. Zusammen gründeten sie „Cuicatl“ – Projekt für präkolumbische Musik in Bonn. Die beiden bilden das Kernteam, zusammen mit den Tänzerinnen Maria João Neno und Elisabeth Nuncio. Ab und an stoßen andere Freunde oder Gastmusiker bei einem oder anderem Auftritt dazu.

 

„Die Spanier verboten uns die indigene Musik. Wir entdecken sie wieder.“

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Naturmusikinstrumente Foto: © Olesia Tolstova

Mit ihrem Bonner Musikprojekt folgen Miguel und Carlos einem Trend, der seit Jahrzehnten in Mexiko zu spüren ist. „Der Trend fügt sich ein in die Wiederentdeckung prähispanischer Kunst, Architektur und Mode, die heute überall im Straßenbild der 20-Millionen-Metropole präsent ist. Indianische Textilien sind nicht mehr Souvenirware für Touristen, sondern Teil der neuen Mode, wie sie schon Frida Kahlo trug. Der Begriff ‚ethnisch‘ ist kein Schimpfwort mehr“, schreibt Jan Christoph Wiechmann, SPIEGEL-Korrespondent für Lateinamerika. Die Eroberung Mexikos während des 17. Jahrhunderts bedeutete Unterdrückung der indigenen Völker und damit einhergehende Ausrottung derer Kultur. Die Spanier zerstörten Tempel, verboten traditionelle Speisen, Kleidung und Sprachen. Mexiko sollte christianisiert, die alten Bilder und Schriften beseitigt und die Künstler verfolgt und hingerichtet werden. Dazu gehörten auch die Musiker der prähispanischen Ära. Die Auslöschung zeigt bis heute die traurige Wirkung: Es existieren keine Notationen der musikalischen Werke der Urvölker Mexikos. Doch música prehispánica lebt weiter. Die Musik des Bonner Ensembles „Cuicatl“ ist keine Musik der Azteken und Maya in ihrer reinsten Form, erklärt Miguel Garcia: „Die Musik, die wir machen, hat lediglich Elemente aus der prähispanischen Kultur. Wir leben ja im neuen Millennium und die Bezeichnung ‚prähispanische Musik‘ wäre ja an der Stelle ein Widerspruch“ (lacht).

Was die Musiker des „Cuicatl“ in Cafés, Museen, Kunstgalerien und Bibliotheken performen, sind deren eigene Interpretationen der präkolumbischen Kultur, basierend auf Bruchstücken und Überlieferungen des Erbes südamerikanischer Ureinwohner, erklärt Carlos Palomares: „Die mesoamerikanische Urkultur hat Strategien gesucht, um zu überleben. Die spanischen Eroberer haben die kulturellen Ausdrucksformen der Urvölker verteufelt und verfolgt. Deswegen musste diese Kultur sich teilweise der Christianisierung anpassen, um bruchstückhaft heute noch vertreten zu sein. Trotz aller Verbote und Verfolgungen sind viele Traditionen von Generation zu Generation über Erzählungen weitergegeben worden – denn mündliche Traditionen abzuhören oder zu verbieten ist schwierig, es gab ja kein Internet mit seiner digitalen Überwachung (lacht). Die Spanier verboten uns die indigene Musik. Wir entdecken sie wieder“.

 

Gesang des Wassers

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Miguel Garcia spielt Ehecachichtli – die „Pfeife des Windes“ Foto: © Olesia Tolstova

„Man kann Musik überall hören. Wenn der Wind weht, hörst du Musik. Wenn der Regen tropft, hörst du Musik. Wenn es gewittert oder stürmt, hörst du auch Musik. Das Rauschen des Meeres ist für mich Musik. Das Zirpen der Grillen und das Zwitschern der Vögel sind für mich Musik. Wir sind umgeben von Schwingungen des Universums“, sagt Miguel nachdenklich. Unter den Zweigen der Weide am Rheinufer packt er Ehecachichtli – „Pfeife des Windes“ aus. Sie ist kleiner als seine Faust und hat die Form eines Geisterkopfes. Miguel umklammert die Pfeife mit beiden Händen und bläst mit voller Kraft hinein.  Er verzieht sein Gesicht vor Anstrengung, seine Wangen wölben sich. Mal schließt, mal öffnet er die Hand und das kleine Toninstrument mit einer Doppelkammer erklingt in lauten dissonanten Tönen, als würde der Wind durch eine schmale Kluft durchpeitschen, es erinnert auch an das Johlen der Geister. Die Musik der indigenen Völker Mesoamerikas hat einen sehr engen Bezug zur Natur. Der Name „Cuicatl“ kommt aus dem Nahautl und bedeutet „Gesang des Wassers“. Die Musikinstrumente bestehen ausschließlich aus natürlichem Material wie Knochen, Horn, Federn, Meeresschnecken, Insektenpuppen, Steine, Holz, Bambus, Samen, Pflanzenteilen, Kalebassen oder Ton. Teponatzli – die kleine Schlitztrommel ist ein dickes Stück Bambusrohr. Die Trompeta Maya wird aus dem Stamm der Agave hergestellt. Die Caracol stellt eine bearbeitete Meeresmuschel dar. Die meisten Instrumente zeigen reliefartige Verzierungen an der Oberfläche, sie zeigen Tiere, Geister, Götter und Menschen. Das Augenmerk liegt an der Tierwelt: Tonflöten in Form der Vögel, Schrapinstrumente in Form von Kröten, Leguanen, Krokodilen und anderen Reptilien sind absolute Hingucker.

 

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Echo der Vergangenheit und Brücke zur Moderne

Die Instrumentenbauer lassen sich von archäologischen Funden inspirieren, sie erschaffen aber auch einige Musikinstrumente mit präkolumbischem Bezug aus ihrer reinen Fantasie heraus, erklärt Carlos Palomares auf dem Weg vom Rhein zum Sendegebäude der Deutschen Welle. Hier, in unterstem Stockwerk unter der Erde befindet sich der Proberaum des Projekts „Cuicatl“. Im schwach beleuchteten Kellerraum trifft die Vergangenheit auf die Moderne: Huehuetl – „die alte Trommel“ steht neben dem Schlagzeug. Teponatzli, Rasseln und Tonflöten liegen verstreut neben der E-Gitarre und Verstärker. Eine Cajon darf bei „Cuicatl“ auch nicht fehlen. „Unsere Interpretationen der versunkenen Klangkulturen Mesoamerikas haben einen Touch Elektronik. Wir bauen in unsere Stücke teilweise Samplings ein. So schaffen wir einen Brückenschlag zur Moderne“, Miguel nimmt die E-Gitarre und demonstriert ein paar Griffe. Als 25-Jähriger kam er nach Deutschland, damals hat ihn die Liebe in die Bundesrepublik geführt. Wenn er gerade nicht in seinem Musikprojekt probt, arbeitet er im Bereich Pressedokumentation bei der Deutschen Welle. Seine Begeisterung für die Musik brachte Miguel Garcia aus Mexiko mit. Schon als Kind hat er zu Hause gerne auf den Möbeln herumgetrommelt, bis seine Finger taub wurden. Er hörte gerne Radio: von Rock zu Pop bis hin zu traditionellen mexikanischen Musikrichtungen wie Mariachi- oder Norteño-Musik mit Akkordeon, Kontrabass und Bajo Sexto. Der Klang der E-Gitarren hat ihn schon immer fasziniert. Miguel hat auf Konzerten Gänsehaut bekommen, wenn E-Gitarre gespielt wurde und irgendwann har er beschlossen es selbst zu erlernen. „Ich bin als Jugendlicher mit meinen Eltern zu einem Ort namens Zapopan im Gebiet Guadalajara gereist. Dort bin ich einigen Künstlergruppen begegnet, die Aufführungen zur Geschichte Mexikos gemacht haben, darunter Darstellungen von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen mit Federn und Speeren gekleideten Azteken und den in Harnisch gerüsteten spanischen Eroberern. „Ein anderes Erlebnis hatte ich in Zócalo in Mexico Stadt, auf dem Platz der Verfassung. Dort habe ich Auftritte von Musikern und Tänzern gesehen, die prähispanische Kultur repräsentierten.  Als ich diese Auftritte zum ersten Mal gesehen habe, war ich sehr beeindruckt. Ich bin daraufhin auf die Künstler zugekommen und habe mich mit denen unterhalten. So sind enge Kontakte entstanden. Ich habe von diesen Menschen viel gelernt – über die Rhythmen und andere Elemente und Eigenschaften, die diese Musik auszeichnen. Diese Elemente habe ich später in das Repertoire von ‚Cuicatl‘ integriert“. Während Miguel an der E-Gitarre zupft, gibt Carlos mit Rasseln den Rhythmus an.

Miguel+Carlos
Miguel Garcia und Carlos Palomares im Proberaum des Projekts “Cuicatl” Foto: © Olesia Tolstova

Carlos Palomares gehört zu Acolhua – einer indigenen ethnischen Bevölkerungsgruppe in Mexiko. Schon als Kind hatte Carlos einen intensiven Kontakt zu traditionellen Ritualen, wobei die Musik eine sehr große Rolle in seinem Familienleben gespielt hat. Eine seiner Großmütter war eine Heilerin. Sie behandelte Menschen mit Massagen und kannte sich sehr gut mit Kräutern aus. „Präkolumbische Welt war bei uns in der Familie immer präsent“, sagt Carlos. In Deutschland organisiert der Mexikaner Sitzungen in Klangtherapie. Menschen kommen zu ihm, um zur Musik zu meditieren. Durch den Klang werden sie in einen tranceartigen Zustand geführt. Carlos spielt dabei auf Toninstrumenten, Trommeln und tibetischen Glocken. Für ihn hat die Musik eine sehr große therapeutische Wirkung. Die Menschen sitzen mit geschlossenen Augen und scheinen in einer anderen Welt zu verweilen. Nach der Sitzung wirken sie sehr entspannt und bedanken sich für das Erlebnis, das ihnen sehr gutgetan hat.

So wie in der Musik harmonieren Miguel Garcia und Carlos Palomares als Freunde: „Mit dem Projekt ‚Cuicatl‘ finden wir Entspannung und Erfüllung, obwohl die Arbeit mit verschiedenen Künstlern anstrengend sein kann, da man im Prozess des ständigen Aushandelns ist. Aber alles in allen ist es für unser Leben eine große Bereicherung. Wenn wir diese Musik spielen, zeigen wir uns den Anderen wie wir sind“.

 

 

Das Titelbild wurde mit freundlicher Genehmigung von Filip Franco zur Verfügung gestellt.

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