Für viele bedeutet Heimat der Ort, an dem sie aufgewachsen sind. Andere definieren es auf emotionaler Ebene mit den Menschen, bei denen sie sich wohl fühlen. Doch das alles musste ich erst lernen.
von Lisa Victoria Hertwig
Es ist zwar schon einige Jahre her, dass ich von zu Hause ausgezogen bin, doch noch immer beschäftigt mich der Gedanke an meine Heimat. Was genau bedeutet das eigentlich, für mich? Wo liegt meine Heimat, was verbinde ich damit, und wie lässt sich meine schizophrene Persönlichkeit zwischen Landei und Großstadt-Mädchen vereinen?
Die erste große Veränderung steht für viele nach dem Abitur an, so war das auch bei mir. Die Entscheidung zwischen Ausbildung, Studium, FSJ oder erstmal jobben fiel mir relativ leicht – denn ich entschied mich für einen Auslandsaufenthalt. Wahrscheinlich eine Art Flucht vor all diesen Möglichkeiten, und vor allem den hartnäckigen Vergleichen zwischen Mitschülern und Freundinnen.

Die meisten blieben irgendwie in der Heimat, sprich einer Gemeinde aus ein paar dutzend Dörfern mit je ein paar tausend Einwohnern. Zur Uni oder ins Büro pendeln war für die meisten eine echte Alternative zum Ausziehen, denn so schön wie bei Mama ist es doch sowieso nirgendwo! Während sich die meisten meiner gleichaltrigen Mitmenschen also zwar auf einen neuen Lebensabschnitt vorbereiteten, aber dafür zuhause blieben, hatte ich Hummeln im Hintern, die irgendwie mit dem Dorfleben zu tun hatten. Versteht mich nicht falsch, ich hatte die beste Kindheit überhaupt – spielen im Dreck, auf der Straße mit Kreide malen, draußen bleiben bis die Laternen angehen. Aber mit 19 war das eben auch langsam vorbei.
Die große weite Welt
Auf die Gefahr hin eines der beliebtesten Klischees meiner Generation zu erfüllen, erzähle ich von meiner Au-Pair Zeit in – ihr wisst es schon – Australien. Ich hatte also dieses unglaubliche Verlangen, so weit weg wie nur möglich von zuhause das nächste Kapitel meines Lebens zu beginnen. Also verbrachte ich 10 Monate buchstäblich am anderen Ende der Welt. Und hatte eine tolle Zeit! Alles war neu und aufregend. Also genau nach meinen Vorstellungen, aber vor allem anders als zu Hause.

Für knapp ein Jahr konnte ich Melbourne meine Heimat nennen – und so wird es auch für immer ein bisschen bleiben. Ich habe mich dort wohlgefühlt, soziale Kontakte sowie einen ganz normalen Alltag aufgebaut. Auch während meiner Rundreise gab es Momente des ‘Heimischen’, zum Beispiel in Form unseres Campers, der uns quer durch’s Land gebracht hat. Eine Art ‘mobile Heimat’ quasi.
Natürlich habe ich meine Familie und Freunde währenddessen vermisst, aber jeden Tag unterwegs zu sein, neue Leute kennenzulernen und unbekannte Orte zu besuchen lenkt nun mal ziemlich gut ab. Meine Heimkehr war im Nachhinein eine Erleichterung, denn für immer wo anders sein konnte ich mir dann doch nicht mehr vorstellen.
Als Landei in die Hauptstadt…
Nächster Halt: Studium. Nach 10 Monaten Australien stand für mich fest, dass ich auf jeden Fall ausziehen musste. Und wieder zog es mich in die Ferne, diesmal jedoch nicht ganz so weit weg – obwohl knapp 600 km auch ‘ne Menge sind. Bachelorstudium in der Stadt der Städte (zumindest in Deutschland): BERLIN!

Wieder begann eine aufregende Zeit voller Veränderungen und neuer Eindrücke. Die Angst, von so viel kosmopolitischer Atmosphäre und zu coolen Menschen erdrückt zu werden, hat sich glücklicherweise nicht bestätigt, denn eigentlich achtet jeder nur auf sich selbst. Und das war in dieser Phase meines Lebens genau das Richtige. Ich wollte mir – und wahrscheinlich auch allen anderen – beweisen, dass ich es alleine schaffe, mein Leben auf die Reihe zu kriegen, mich zu organisieren mit Studium, Nebenjob und Freizeit. Das alles habe ich auch ganz gut hingekriegt, denke ich. Meine Zeit in Berlin hat mich allerdings auch wieder daran erinnert, wie wichtig mir Familie ist. Und dass Heimatbesuche dreimal im Jahr nicht ausreichen.
… und wieder (fast) zurück!
Auch drei Jahre gehen schneller vorbei als einem lieb ist, und als ich mich also für die Masterstudiengänge beworben habe, stand ich erst einmal vor einer riesengroßen Verwirrung. Frei und alleine und selbstständig sein ist mein Ding, das kann ich gut. Doch plötzlich schlich sich ein Gedanke in meinen Kopf, den ich da zunächst nicht haben wollte. Zurück in die Heimat.
Dass ich meinen Master wieder in meiner ‘Heimat’ machen würde, hätte ich tatsächlich niemals geglaubt. Dabei ist Bonn noch nicht mal die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, aber zumindest so nah, dass ich bestimmte Ecken und Erinnerungen mit meiner Jugend in Verbindung brachte. Auch ist Bonn an sich eine schöne und interessante Stadt, hat kulturell viel zu bieten, aber mein Herz habe ich in Berlin verloren – und das bleibt wohl auch so. Es gibt immer noch Tage, an denen mich die Sehnsucht nach dieser Stadt innerlich zerreißt, aber nicht nur die Straßen und das ganze Drumherum, sondern auch mein Leben dort. Ist Berlin deshalb meine Heimat? Und hat Bonn überhaupt eine Chance, meine neue oder vielleicht einfach zweite oder dritte Heimat zu werden?

Fakt ist, dass dieser Begriff für mich persönlich viel mehr in sich trägt als den Ort, an dem ich geboren wurde und aufgewachsen bin. Es bedeutet auch mehr, als mein aktueller Wohnort, der wird sich in Zukunft wohl noch einige Male ändern. Mir ist klar geworden, dass ich meine Familie gerne in meiner Nähe habe. Dasselbe gilt für alte Freundinnen und eine Beziehung, die seit Jahren auf Entfernung funktioniert. Solche und ähnliche Dinge kennen sicherlich viele von euch. Nichtsdestotrotz bedeutet Heimat auch eine Atmosphäre, in der ich mich wohl fühle – zum Beispiel Aktivitäten, die ich gerne in meiner Freizeit unternehme oder Dinge, die mir ein Gefühl von Zuhause bieten. Aber klar ist, dass die Lokalität des ‘zuhause seins’ wahrscheinlich nur eine untergeordnete Rolle spielt – solange man sich wohl fühlt und Menschen in seiner Nähe hat, die das Leben reicher und schöner machen.