
Auf der Fußmatte vor deiner Haustüre liegt ein in Packpapier gewickelter Schuhkarton. Mühevoll mit Klebeband zusammengehalten. Die Ecken sind leicht eingedrückt – Gebrauchsspuren. Auf der Oberseite des Kartons prangt dein Name in Großbuchstaben. Seltsam. Als du die Schachtel öffnest, befreist du 13 kindlich bemalte und in Luftpolsterfolie gewickelte Kassetten. Sie sind an dich adressiert. Von einer Toten.
Von Florian B.
Was klingt wie ein psycho- oder Mystery-Thriller á la Stephen King, ist tatsächlich die neuste Serie des Video on Demand Giganten Netflix. Die Adaption eines Jugendromans soll es diesmal sein, produziert von (Achtung Fun-Fact) Selena Gomez! Diese hatte sich nämlich bereits vor mehreren Jahren die Rechte an dem Buch „13 Reasons Why“, oder zu deutsch „Tote Mädchen lügen nicht“, gesichert ,welches Netflix nun unter gleichem Namen verfilmt und in 13 Episoden ab dem 31.3 auf seiner Plattform anbietet. Dreh und Angelpunkt ist der tragische Selbstmord einer Schülerin namens Hannah Baker, gespielt von Katherine Langford. Ihr Tod belastet den Alltag ihrer Mitschüler einer namenlosen High School in L.A. Einer von ihnen ist der unauffällige und liebenswerte Clay Jensen, gespielt von Dylan Minnette, der zwei Wochen nach dem tragischen Suizid das oben beschriebene Päckchen mit besagtem Inhalt vor seiner Haustüre findet. Er muss feststellen, dass Hannah kurz vor ihrem Tod auf den 13 durchnummerierten Kassetten, 13 Gründe für ihren Selbstmord dokumentiert und aufgelistet hat. Das fatale daran ist, dass Clay einer von eben diesen Gründen zu sein scheint. Es beginnt eine dramatische Wanderung auf den Spuren einer Toten, die von Mobbing, jugendlichen Ängsten und reihenweise menschlichen Fehlern handelt. Dabei kommentiert Hannah das Geschehen die gesamte Staffel über, in alter „Desperate Houswife“ – Manier, aus dem Off.
Puh, ich weis was ihr denkt: Das klingt nach Teenager Drama, unangenehmen Klischees, Kitsch und Moralkeule vom Feinsten. Und ich will nicht lügen, in den ersten Episoden läuft die Serie Gefahr genau diesen Weg einzuschlagen.
Es werden euch alle nur erdenklichen Stereotypen einer US-amerikanischen High School auf dem Silbertablett präsentiert. Es gibt die coolen, Collegejacken tragenden und beliebten Sportler. Dann ist da noch der eigentlich voll nette rebellische Schönling. Unser Protagonist Clay ist irgendwie nicht so beliebt, eher unauffällig und hat natürlich total nervige Eltern. Aber zum Glück gibt es ja ganz viele Partys um dem Schulalltag zu entfliehen!
Und ja, an diesem Punkt stellt man sich schnell die Frage, ob man sich jetzt wirklich eine 13 stündige, vor US-amerikanischen High-School Klischees triefende Moralpredigt über Mobbing an Schulen anhören will. Leider verbessern zudem Dialogschnipsel aus der Hölle (Zitat: „Ah, das gefällt mir, es gehört Mut dazu ein Nerd zu sein“), die den Fremdschampegel auf ein Maximum steigen lassen, diese Haltung nicht gerade.

Aber glaubt mir, es wird besser! Hat man erst einmal die ersten ein oder zwei Episoden überwunden, entfaltet die Serie ihr ganzes Potential. Sie lässt sich dafür Zeit, aber das darf und muss sie auch. „Tote Mädchen lügen nicht“ versucht die Stereotypen und die schwarz – weiß Malerei zu durchbrechen. Dafür muss sie aber zunächst eben diese Klischees aufbauen und den Zuschauer damit konfrontieren. Die Bösen sind nicht nur böse, haben teilweise sogar recht nachvollziehbare Motive, Hannah Baker ist nicht nur das unschuldige Mobbingopfer und auch Clay ist nicht einfach der unauffällige Junge mit dem sich hoffentlich jeder identifizieren kann. Je weiter die Serie voranschreitet, desto mehr Schichten deckt sie von den einzelnen Charakteren und ihren Dynamiken auf. Oft ertappt man sich bei Gedanken wie: „so hab ich auch mal gehandelt“, oder „Wer hat denn nun richtig gehandelt?“. Und genau das lässt gute und weitestgehend authentische Personen entstehen, denen jeder irgendwie schon mal begegnet ist und in denen sich jeder ein stückweit wiederfinden kann. Die Figuren wirken nicht allzu fern der Realität (klar sind die ein oder anderen noch ein wenig „over the top“, aber das ist zu verzeihen) und verkörpern dennoch jeweils für sich einen gewissen Grundtypus, der bei dem Thema Mobbing eine Rolle spielt. Dabei beschränkt sich die Serie aber nicht allein auf diesen Bereich, sondern zielt auch auf Themen wie Missbrauch, Depressionen und die Gefahren der (Achtung Spoiler) sozialen Netzwerke ab. Es gelingt ihr dennoch nicht in einen zu traurigen oder freudlosen Tonus abzudriften, der abschreckend wirken könnte. Stattdessen bleibt „13 Reasons Why“ sachlich und wertet nicht. Es lässt jede der Figuren zu Wort kommen, um ihre eigene Version und Motive in den Fokus zu rücken. Dabei steht auch vor allem die Frage im Vordergrund, wie verschiedenste Äußerungen von anderen aufgefasst und je nach Kontext bewertet werden.
Durch gut platzierte (anfangs vielleicht etwas verwirrende) Rückblenden und die generelle Entscheidung, die Geschichte in zwei Zeitebenen zu erzählen, entsteht die nötige Spannung, welche der Serie zusätzlich gut tut. Ohne diesen „crime“ Faktor rund um die Frage, wie das alles zu der schrecklichen Entscheidung Hannahs führen konnte und wer letztlich die Schuld trägt, wäre die Serie vielleicht schleppender verlaufen. „Tote Mädchen lügen nicht“ ist vielleicht technisch gesehen nicht die beste Serie, die Netflix je produziert hat. Sie hinterlässt mit den vielschichtigen sowie erschreckend realitätsnahen Charakteren und Ereignissen jedoch einen bleibenden Eindruck und schafft es so das Thema Mobbing erfrischend neu und kreativ aufzubereiten, ohne in billigen Kitsch abzudriften, der sich Moralität auf die Fahnen geschrieben hat.
Dabei meistert die Verfilmung den schmalen Grad zwischen ernsthaftem Teenager Drama, und kitschigem High School Gesülze. Man muss ihr dafür nur ein wenig Zeit geben.
PS: Wer jetzt Gefallen an der Serie gefunden hat, darf Luftsprünge machen, denn es ist bereits eine 2. Staffel in Planung. Was man davon halten mag, bleibt jedem selbst überlassen. Für die, die bis dahin nicht warten können, hat Netflix in den USA zusätzlich eine Dokumentation zur Serie auf seiner Plattform bereitgestellt – leider aber nicht für User aus Deutschland..