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[Rezension] Vom Hoffen und Abwarten in revolutionären Zeiten

Kruso ist Lutz Seilers Debütroman – vorher schrieb er Gedichte und Erzählungen. Auch wer das nicht wusste, hat es sich nach der Lektüre vielleicht schon gedacht. Kruso ist offensichtlich das Werk eines Poeten, der sich 476 Seiten Zeit genommen hat, um etwas zu erzählen, das so noch nicht erzählt wurde.

Von Greta Weber

Kruso ist höchstens auf den ersten halben Blick ein typischer Roman über den letzten Sommer der DDR. Man schreibt das Jahr 1989 und der Germanistikstudent Edgar, genannt Ed, flieht aus Halle gen Norden auf die Ostseeinsel Hiddensee, seit je her bekannt als Künstler- und Aussteigerdomizil. Von dort sind es nur noch wenige Seemeilen bis Møn, Dänemark, doch Ed ist nicht hier, um in den Westen zu gehen. Er ist lediglich auf der Suche nach einem Anhaltspunkt. Auf Hiddensee wird er Tellerwäscher im Klausner, einer Gaststätte auf dem Dornbusch, wo er Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, kennenlernt, und die Welt der „Esskaas“, der Saisonkräfte. Einen Sommer lang erlebt er die Rituale und Eigenheiten dieser Gruppe von „Schiffbrüchigen“, deren Prediger und Organisator Kruso ist.

Ed und Kruso werden enge Freunde, vereint im Schicksal verlassen worden zu sein – Ed von seiner Freundin, Kruso von seiner Schwester – und einer gemeinsamen Liebe zur Poesie – sie rezitieren laut Trakl und schreiben  Gedichte. Und am Ende bleiben sie als letzte zurück, als die Grenze im Herbst plötzlich offen ist und die Inselbewohner in den Westen strömen.

 

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Leuchtturm auf dem Dornbusch. Credits: Freya Weber.

Kruso aber ist keine Geschichte über das Gefangensein im Osten und die Freiheit im Westen, es ist eine über die Freiheit, die in einem selber wohnt, und ihre Bedingtheit nicht nur, aber auch in der Lebensrealität eines symbolträchtigen Sommers. Es ist eine Geschichte über Träume, die untergehen müssen, um anderen Platz zu machen, über den Optimismus und Glauben, den es braucht um einen Flecken fröhlicher Anarchie inmitten eines Überwachungsstaates zu schaffen. Aber es ist auch ganz einfach eine Geschichte über einen Studenten, der aussteigt und sein Glück als Abwäscher auf einer klitzekleinen Ostseeinsel findet. Und es ist eine Geschichte vom Scheitern und dem Versuch trotzdem weiterzumachen, auch wenn einer wie Ed manchmal der Letzte ist, der noch kämpft.

 

Das Wunderbarste an Kruso ist  die Sprache des Poeten. Nicht alle Tage vermag es jemand ebenso packend und liebevoll von verklebten Essensresten im Abflussrohr, genannt „der Lurch“, zu erzählen, wie er das große Finale samt majestätischem Panzerkreuzer und Salutschüssen schildert. Im Gegensatz vom detailliertem Alltagsrealismus einer Gruppe Saisonkräfte in einer Gaststätte der späten DDR zu den märchenhaften Sequenzen über Riten, Natur und

Blick über Hiddensee. Credits: Freya Weber.
Blick über Hiddensee. Credits: Freya Weber.

Freiheit schafft Seiler eine Atmosphäre, die den Leser unweigerlich in ihren Bann zieht, mal zum Träumen, mal zum Grübeln, und mal zum Innehalten einlädt. Nur wer es liebt, wenn schnell und auf den Punkt geschrieben wird, der sollte von diesem Buch vielleicht lieber die Finger lassen. Das dass nicht die Stärke eines Dichters ist, ist wohl kaum überraschend.

Und wer nach der Lektüre ein Bedürfnis verspürt, sich einmal anzusehen, wie viel Magie man wirklich noch auf Hiddensee findet, der ist im Glück: Die Gaststätte Zum Klausner steht noch auf dem Dornbusch. Aber Achtung – ein Kaffee kostet dort heute gerne mal vier Euro. Ob das der Magie Abschlag tut, muss jeder für sich entscheiden.

 

Suhrkamp Verlag, Berlin 2014

ISBN 9783518424476

Gebunden, 484 Seiten, 22,95 EUR

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