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Kurzgeschichte: Hölle auf Erden

Eine Kurzgeschichte von Julia Lüthgen. 

„Hast du die Blumen für Mama?“, fragte ich Tristan. „Ja hab‘ ich, genau wie die tausend Geschenke, die du ja alle kaufen musstest, Lena.“ Ich schaute ihn vorwurfsvoll an, aber eigentlich nur, um meinen Frust auf etwas anderes zu lenken als auf mich selbst. „Ich weiß gar nicht, ob sie die Fahrt überstehen“, murmelte er, während er die Taschen ins Auto lud. Wir hatten die kürzeste Route gewählt: 54 Stunden. Auch wenn wir nicht auf das Geld gucken mussten, war das selbst für uns viel: 320 Euro – pro Person pro Strecke. Wäre es nach Tristan gegangen, wären wir erst wieder in ein paar Jahren geflogen, aber ich hielt es nicht mehr aus und wollte Mama, Papa und meine Schwester wiedersehen.

Außerdem wurde ich Tante, weswegen alle in Aufruhr waren. Sie wussten, dass es keine gute Zeit war, um schwanger zu werden, aber sie versuchten sich trotzdem zu freuen, soweit das eben ging. Niemand wusste so richtig, was nun auf Anna zukam. Bis vor ein paar Jahren mussten bei einer Schwangerschaft nur Bußgelder bezahlt werden. Beiträge zur Überbevölkerung wurden nun immer härter bestraft: Viele werdenden Eltern wurden zur Abtreibung gezwungen. Andere hatten mehr Glück und konnten das Kind behalten, wenn sie nachweisen konnten, dass ein näheres Familienmitglied im letzten halben Jahr verstorben war. Als Mama von Annas Schwangerschaft erfuhr, war sie so verzweifelt, dass sie vorschlug, sich das Leben zu nehmen, damit Annas Kind weiterleben durfte. Als Tante Ulrike dann letzte Woche starb, waren wir alle erleichtert. Bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken hinunter – ich schüttelte mich. „Was ist los, Schatz?“, fragte Tristan und riss mich aus meinen Gedanken. „Ach nichts, ich freue mich nur auf Zuhause.“ Er nahm mich in den Arm. „Machst du dir Sorgen wegen Anna?“ Ich nickte. Eigentlich machte ich mir Sorgen wegen allem. „Das wird schon werden.“ „Mhm“, brummte ich in seinen Pullover hinein.

54 Stunden später landeten wir, die Tür ging auf und die Hitze kam mir wie ein Schwall entgegen. Wir stiegen aus und ich sah die hohen Zäune, die um den Landeplatz gespannt waren, damit die Menschen ohne Befugnis keine Möglichkeit hatten, hinein zu gelangen. Direkt bildete sich wieder der Kloß in meinem Hals, den ich schon von den Besuchen von Zuhause kannte. Trotz des ohrenbetäubenden Lärms hörte man die verzweifelten Schreie der Menschen hinter den Zäunen. Ich versuchte nicht hinzuschauen, aber mein Blick wanderte doch über die vielen verzweifelten Gesichter. Jemand fasste mich fest von hinten. „Da seid ihr ja endlich“, Mama drehte mich und fiel mir weinend um den Hals. „Gut seht ihr aus und ihr habt so schöne Sachen an!“ Um abzulenken, kramte ich schnell die Blumen hervor. „Danke“, sagte Mama immer noch mit Tränen in den Augen. „Kommt, Papa und Anna warten draußen.“ Anna sah dünn und müde aus, ihr Lächeln wirkte angestrengt. Ihr Bauch sah größer aus als auf den Fotos. Tristan, der vergessen hatte, dass man hier nicht mehr mit dem Auto fahren durfte, schaute mich vorwurfsvoll an, als er unser Gepäck auf seinen Rücken schnallte, sagte aber nichts.

Foto: Matt Heinrichs/ Pixabay
Foto: Matt Heinrichs/ Pixabay

Bei Papa und Mama zuhause angekommen, gab es Kaffee und Kuchen. Ich bekam direkt ein schlechtes Gewissen, weil ich wusste, wie viel es gekostet haben musste den zu backen. „Lena guck mal, ich hab‘ extra Sekt gekauft für euch.“ „Das ist lieb Mama, aber ich möchte keinen Sekt, danke“, sagte ich und schaute Tristan hilfesuchend an. „Ich nehme gerne was“, meinte er und hielt ihr das Glas hin. „Wie ist es auf der Arbeit?“, fragte Papa. „Gut“, log ich. Ich hatte meinen Job gekündigt, weil Tristans Familie genug Geld hatte, sodass wir ausgesorgt hatten, aber ich brachte es nicht übers Herz, es meiner Familie zu erzählen. „Ja und wie gehts euch sonst so?“, fragte ich in die Runde und bereute es schon, als ich den Satz ausgesprochen hatte. Mama lächelte müde und Tristan rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Schweigen. Auf einmal schlug Anna die Hände vors Gesicht und fing an zu schluchzen. „Ach Lena, was willst du denn wissen. Du weißt doch, wie es hier ist. Wir werden von morgens bis abends kontrolliert: Wir dürfen kein Auto mehr fahren, können keine neuen Anziehsachen mehr kaufen, können kaum noch was essen – Mama isst seit drei Tagen Kartoffeln, weil der Rest draußen vertrocknet ist. Und wenn es dann mal regnet, dann ist es viel zu viel und alles schwemmt über.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und starrte auf Mamas Zitronenkuchen, den noch niemand angerührt hatte. „Ach und Lukas ist abgehauen, als er gehört hat, dass ich schwanger bin und nicht freiwillig abtreiben will.“ Meine Oberlippe fing an zu beben und meine Hand wanderte langsam zu ihrem Bauch, als ich flüsterte: „Es tut mir alles so leid.“ „Es braucht dir nicht leidtun“, sagte sie mit zitternder Stimme und schaute zu Tristan. „Du hattest einfach Glück“.

Mit meiner Hand auf ihrem Bauch schaute ich zu Mama und Papa. Die beiden wirkten viel älter als das letzte Mal, als ich hier war. Ich dachte zurück an meine Kindheit auf der Erde. An die Unbeschwertheit, mit der Anna und ich im grünen Garten spielten. Meine Augen wanderten zum Garten und ich suchte vergeblich nach einer grünen Stelle, nach einer Stelle Vergangenheit, an die ich mich klammern konnte. Als meine nassen Augen weiter zu Tristan glitten, erkannte ich sein Unwohlsein an seiner Haltung. Hätte ich ihn nicht mit 18 Jahren kennengelernt, säße ich jetzt auch hier und wäre nicht nur zu Besuch. „Erzählt doch mal von euch, wie geht’s euch und deiner Familie, Tristan?“, riss mich Mama aus meinen Gedanken. Wir erzählten wenig von HD 28185b. Uns ging es gut dort. Wir hatten immer genug zum Leben, konnten Auto fahren und ins Kino gehen, wann immer wir wollten. Unsere Freunde auf HD 28185b hatten alle keinen Kontakt mehr zu Freunden oder Familie auf der Erde. Ohne Tristans Antwort abzuwarten und als hätte sie meine Gedanken lesen können, fragte Anna: „Wie lange wollt ihr das mit dem Besuchen noch machen? Ihr wisst, ich liebe euch, aber ich weiß nicht, ob es gut ist – weder für uns noch für euch…Und das weißt du auch, Schwesterherz.“ „Aber ich will doch meine Nichte aufwachsen sehen“ antwortete ich und wieder schossen mir Tränen in die Augen. „Ich würde sie auch gerne aufwachsen sehen, Lena“, erwiderte Anna. „Aber das wirst du doch, oder?“ Niemand antwortete. „Oder?“ Wiederholte ich und schaute Mama und Papa verzweifelt an. „Ja, das wird sie schon. Wir schaffen das schon irgendwie.“, versuchte Mama mich zu beruhigen und nahm dabei Annas Hand.

Papa lenkte das Gespräch auf seine Arbeit und ich konnte sehen, wie Tristans Haltung sich entspannte. Für ihn war es nicht leicht, meine Familie hier auf der Erde zu sehen, wo das Klima immer heißer und damit alles immer schlimmer wurde. Und uns mit seiner Familie auf HD 28185b, wo alles so anders war – so viel besser. Seine Familie war so reich, dass sie es sich leisten konnte umzuziehen und mich mitzunehmen. Familie der Partner waren nicht erlaubt, so waren eben die Regeln. Wir hatten alle möglichen Anträge gestellt – keine Chance.

Am nächsten Tag brachte Anna uns zur Raumstation. Die Rakete stand schon bereit, als wir kurz vor dem Zaun stehen blieben. Ich schwitzte so sehr, dass ich mir alles auszog, was irgendwie ging. Anna, die an die Hitze gewöhnt war, hatte sogar noch ihre Jacke an. Tristan ging mit unserem Gepäck schon mal zur Kontrolle. Die Hitze und das Geschrei wurden unerträglich. Sein Gesicht wurde gescannt und auf dem Gerät blinkte auf: „Verlassen der Erde – gestattet.“ Die Schranke öffnete sich kurz und er ging hindurch. Links neben Anna und mir stand ein Mann. Er schrie nicht mit den anderen mit, sondern hielt nur stumm sein Plakat: „Und ihr lasst uns hier? In der Hölle auf Erden!“ Anna folgte meinem Blick und sagte nur: „Ist schon okay, du hast es verdient.“ Ich nahm sie lange in den Arm, bevor ich durch die Schranke ging. Nein, das hatte ich nicht.

Nach 54 Stunden Fahrt stiegen wir aus der Rakete aus. Meine Lungen füllten sich wieder mit frischer Luft, ich zog meine Jacke an und merkte, wie der Kloß in meinem Hals zurückging. Wir mussten uns beeilen – ich war mit meiner Hebamme verabredet.

 

Foto: Peter Fischer/Pixabay

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