Aktuelles Kultur Literatur

Kurzgeschichte: Full Moon Blues

Schritt 1: U-Bahn erwischen. Schritt 2: Die Tee-Mischung kaufen, die deine Freundin unbedingt haben will. Schritt 3: Vor Sonnenuntergang wieder Zuhause sein. Das sollte eigentlich nicht so schwer sein, richtig?

Von Jasmin Knieling

“Sam, denk dran, die U-Bahnen fahren heute nicht!“, Annas Stimme hallte durch den Flur, während ich die Wohnungstür hinter mir schloss. Verdammt, das hatte ich schon wieder vergessen. Warum musste ausgerechnet heute gestreikt werden, wo ich an das andere Ende der Stadt musste?

Okay, zugegeben, das war vielleicht etwas übertrieben – ich konnte den Weg zu Jawzahrs Gewürzladen und zurück laufen bevor die Sonne unterging – es war nur echt unbequem. Der Winter hatte New London fest im Griff und es lag Schnee in der Luft. Die Zwerge hatten einen guten Zeitpunkt für ihren Streik ausgewählt, damit wirklich jedem die Relevanz ihrer Arbeit klar wurde. Bei diesem Wetter wollte niemand auf die öffentlichen Verkehrsmittel verzichten.

Bevor ich mich also auf den Weg machte, brauchte ich definitiv noch etwas Warmes. Entschluss gefasst, ging ich zu meinem alten Freund Arti, der wie jeden Tag mit seinem kleinen Kaffeewagen an der Straßenecke stand.

Bild: Unsplash

„Hey Sam, was kann ich heute für dich tun? Das Übliche?“ Im Gegensatz zu mir schien Arti heute besonders gut gelaunt zu sein. Seine Baseball-Kappe saß schief auf seinem Kopf, während die strähnigen weißen Haare im Wind flatterten. Die Kälte machte ihm anscheinend nichts aus.

„Ja bitte. Warum die gute Stimmung?“

„Heute Nacht ist Vollmond, die Leute sind gut drauf, die Welt ist schön, Sam! Wie kann ich dich aufmuntern? Lust auf einen Brownie?“

Lachend schüttelte ich den Kopf. „Nichts für ungut, Arti, aber als ich das letzte Mal deine Brownies probiert habe, konnte ich Bäume sprechen hören.“ Dass der alte Mann nicht schon längst von der Polizei hochgenommen wurde, grenzte an ein Wunder. Er war ein Wahrzeichen dieses Viertels, jeder kannte ihn – und seine Backwaren.

„Verstehe, verstehe, du alte Spaßbremse.“ Arti begann mit der Zubereitung meines Getränks, während ich mein Geld aus der Tasche holte. Auf einmal schepperte es laut.

Bei dem Einfüllen des Kaffeepulvers hatte Arti anscheinend den Löffel fallengelassen und starrte nun das Durcheinander auf seiner Arbeitsfläche starr an.

„Arti? Ist alles okay mit dir?“ Ich zögerte als der alte Mann immer noch nicht reagierte und berührte ihn dann leicht an der Schulter. „Arti!“ Es schien mir, als hätte sich ein Schatten über uns gelegt. Ohne seine Augen von dem Kaffeepulver zu nehmen, drehte der alte Mann seinen Kopf zu mir. Seine Stimme war ungewohnt, als er einige harsche Wörter in einer fremden Sprache ausstieß.

Völlig verdutzt starrte ich ihn an. Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, dass auch einige Passanten stehen geblieben waren, um uns zu beobachten. Plötzlich schüttelte sich Arti, als würde er endlich den eisigen Wind bemerken, und schaute mich verwundert an. „Alles gut bei dir? Du siehst aus, als hättest du eine Ratte überfahren.“

„Bei mir?! Die Frage ist eher, ob bei dir alles in Ordnung ist! Was war das eben?“ Um meinen Punkt zu unterstreichen, zeigte ich leicht hysterisch auf seinen verdreckten Tresen. Arti schien meine Geste falsch zu verstehen und murmelte griesgrämig, als er einen Lappen unter dem Tresen hervorkramte: „Ach, mach doch nicht so einen Stress. Mit dem Alter wird man eben etwas zittrig.“

Eine Nachricht von Anna lies mich auf mein Handy schauen und ich stellte mit Schrecken fest, dass fast eine halbe Stunde vergangen war, seit ich die Wohnung verlassen hatte. Als hätte Arti meine plötzliche Eile bemerkt, drückte er mir prompt meinen Kaffeebecher und eine braune Tüte in die Hand. „Arti, ich wollte doch keinen – “  

Arti unterbrach mich leise, während er sich unauffällig unter seiner Kappe hervor umblickte. „Nimm es mit. Ich habe da so ein Gefühl, vielleicht hilft es dir. Bezahl beim nächsten Mal.“

Arti hielt das Gespräch damit wohl für beendet, denn er drehte sich zu einem neuen Kunden herum und tat so, als würde ich nicht mehr existieren. Nun gut, dann würde ich Anna eben heute Abend auch noch etwas Gebäck mitbringen. Mit einem letzten skeptischen Blick zurück machte ich mich auf den Weg.

Ich hatte nur eine ungefähre Ahnung, wo der Gewürzladen war, zu dem sie mich geschickt hatte. Normalerweise kaufte Anna ihre Tee-Mischung gegen Schmerzen selbst, doch sie hatte heute erst bemerkt, dass sie wohl den Tee schon letzten Monat aufgebraucht hatte. Da es ihr bereits nicht so gut ging, hatte ich mich natürlich bereit erklärt, die Besorgung zu erledigen.

Die Straßen waren wie leergefegt und die wenigen Personen, die ich sah, schienen es genauso eilig zu haben wie ich. Annas Wegbeschreibung stellte sich als hilfreich heraus und schon bald stand ich vor meinem Ziel: Jawzahr’s Gewürzparadies.

Die Eingangstür des Geschäfts war überraschend schwer und als sie hinter mir zufiel, kündigte eine leise Glocke mein Eintreten an. Der Raum, den ich betrat, war deutlich kleiner als ich vermutet hatte – oder er wirkte so, weil er unglaublich voll war. Die Wände waren hinter hohen Regalen verborgen, von dunklen Deckenbalken hing eine Mischung aus getrockneten Kräutern und bunten Tüchern. Und dann gab es noch die Gewürztische – sie quollen fast über vor wertvollen Zutaten aus aller Welt. Der Geruch ließ mich heftig niesen.

Als ich mich wieder im Griff hatte, stellte ich fest, dass ich allein im Geschäft war. Hinter dem chaotischen Tresen stand niemand. Ich hatte jedoch kein Problem damit, mich ein wenig umzuschauen, bis ein Verkäufer kam. Während ich an ein Regal voller Räucherstäbchen trat, hörte ich hinter mir ein leises Rauschen. Mit der Erwartung, dass vielleicht ein weiterer Kunde die Tür geöffnet hatte, sah ich mich um, doch bemerkte niemanden. Als ich mich wieder herumdrehte, begegnete ich reptilienartigen Augen auf dem Regalbrett.

„Oh, was bist du denn für ein Süßer!“ Vorsichtig streckte ich die Hand aus, damit der kleine Drache an meiner Hand schnuppern konnte. Grüne und blaue Schuppen bedeckten seinen winzigen Körper – er war vielleicht so groß wie meine Hand – und glänzten metallisch in dem gedämpften Licht des Ladens. Ich hatte noch nie einen echten Drachen so nah gesehen und auch keine Ahnung, was die richtige Verhaltensweise war. Tatsächlich interessierte meine Bewegung den Drachen aber gar nicht. Seine Augen waren stur auf meine Handtasche gerichtet.

Bild: Unsplash

„Bitte entschuldigen Sie die Wartezeit!“ Hinter dem Tresen war ein Mann aufgetaucht – ich vermutete Jawzahr – und lächelte mich entschuldigend an. „Ich habe im Lager Ware sortiert und Sie nicht gehört.“

Tatsächlich hatte ich nirgendwo eine Tür zu einem Hinterraum gesehen, aber vielleicht waren meine Sinne einfach nicht dafür geeignet.

„Alles gut, ich wurde schon von ihrem kleinen Freund begrüßt!“ Mit einem letzten vorsichtigen Blick drehte ich dem besagten Wesen den Rücken zu und ging zum Tresen. Der Ladenbesitzer entdeckte den Drachen im Regal und schien überrascht.

„Normalerweise versteckt er sich bei Fremden… anscheinend findet er Sie interessant. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Während ich den Zettel mit Annas Tee-Rezept aus meiner Hosentasche kramte, betrachtete ich den Mann, den ich für Jawzahr hielt. Er schien ungefähr in meinem Alter zu sein und war sehr unauffällig gekleidet – nicht unbedingt die Persönlichkeit, die ich in diesem extravaganten Laden vermutet hätte. Gerade als ich zu dieser Einschätzung kam, stieß ein Sonnenstrahl durch die Wolken und traf durch die Schaufenster auf die Haut des Verkäufers. Winzig kleine Schuppen schimmerten in einem wunderschönen dunkelrot, bis sich die Wolkendecke jäh wieder schloss.

Peinlich berührt und in der Hoffnung, dass der Verkäufer mein kurzes Erstarren nicht bemerkt hatte, schob ihm den Zettel über den Tresen zu. „Ich brauche eine Tee-Mischung aus diesen Zutaten.“

„So, Mönchspfeffer, Wolfswurz und Frauenmantel also?“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Nicht für Sie selbst, richtig?“

„Nein, für meine – “ Ich beendete meinen Satz nicht, da Jawzahr bereits an mir vorbei zu einem Regal im hinteren Teil des Ladens lief. Etwas unsicher, was ich in der Zwischenzeit mit mir anfangen sollte, blieb ich vor dem Tresen stehen. Unvermittelt hörte ich ein Rascheln… aus meiner Handtasche? Mit vorsichtigen Fingern zog ich den Rand etwas zur Seite – und blickte in die Augen des kleinen Drachens, der gerade etwas herunterschluckte.

„Hey, du kleines Ding, was hast du da?“ Mit einem beherzten Griff schnappte ich das Wesen und setzte es auf dem Tresen ab. Offensichtlich hatte es Alfis Gebäck gerochen – die Papiertüte war etwas in Mitleidenschaft gezogen und die Krümel eines Kräuterbaguettes in meiner Tasche verteilt.

„Tannin, was hatten wir vereinbart? Du kannst nicht einfach Essen stehlen!“ Der Verkäufer kam mit dem Arm voller Gewürze eilig auf uns zu. „Bitte entschuldigen Sie, ich weiß auch nicht was in ihn gefahren ist.“ Er nahm den Drachen – Tannin – hoch und setzte ihn sich auf die Schulter.

„Hier ist der Tee, bereiten Sie ihn wie immer zu. Der Mondzyklus sollte einfacher verlaufen.“

Nachdem ich bezahlt und mich verabschiedet hatte – Tannin sah aus, als wäre er liebend gerne wieder in meine Tasche geflogen – machte ich mich auf den Heimweg. Die Sonne stand schon relativ niedrig, ich würde mich etwas beeilen müssen. Ich entschied mich, eine Abkürzung durch eine kleine Einkaufspassage zu nehmen, die ich schon auf dem Hinweg gesehen hatte. Ein dummer Fehler.

Ich hatte die Passage gerade zur Hälfte durchquert, als sich mir ein neongelber Schemen in den Weg stellte.

Bild: Unsplash

„Die Kinder von New London brauchen Ihre Hilfe!“ Verdutzt starrte ich die junge Frau vor mir an. Schwarze Dreadlocks umrahmten ein bleiches Gesicht, welches durch die grelle Farbe ihres T-Shirts einer Wohltätigkeitsorganisation noch kränklicher aussah.

„Es tut mir leid, ich habe gerade wirklich keine Zeit.“ Ich versuchte, mich an ihr vorbeizudrücken, doch sie reagierte blitzschnell und versperrte mir die Flucht.

„Die Kinder haben auch keine Zeit mehr, wenn Sie Ihnen nicht helfen! Für nur 60 € im Jahr…!“

Während die junge Frau ihre eindeutig auswendig gelernten Sätze abspielte, sah sie mich eindringlich an. Es schien, als wäre sie… Nein, das würde niemand machen, nicht am helllichten Tage… Mein Blickfeld verschwamm, bis ich nur noch ihre Augen wahrnahm. Vielleicht brauchten die Kinder wirklich meine Hilfe?

Moment mal!

Mit letzter Willenskraft trat ich einen Schritt zurück und versuchte meinen Kopf klar zu bekommen.

„Lassen Sie das, sofort!“ Ich bemühte mich, der Vampirin nicht direkt ins Gesicht zu schauen. Ihre Verärgerung war trotzdem deutlich spürbar. „Eine Mitgliedschaft…“ Während sie erneut versuchte, mich in ihren Bann zu ziehen, hatte ich eine – zugegebenermaßen ziemlich absurde – Idee. Mit zitternden Händen zog ich die leicht zerrissene Papiertüte mit Artis Gebäck aus meiner Tasche und wedelte damit in die Richtung der Frau. Angewidert, als hätte ich kein Kräuterbaguette, sondern einen Hundehaufen in der Hand, wich sie von mir zurück.

Triumphierend bewegte ich mich an der Vampirin vorbei, die Papiertüte weiterhin vor mir schwenkend, und durchquerte die letzten Meter der Einkaufspassage, ohne ihr komplett den Rücken zuzuwenden. Das war gerade nochmal glimpflich ausgegangen! Arti war ein Held.

Wieder an der frischen Luft bemerkte ich mit Schrecken, dass der Himmel bereits deutlich dunkler geworden war und bereits die ersten Straßenlaternen leuchteten. Ich war zwar nicht mehr weit von Zuhause entfernt, doch ich würde den restlichen Weg wohl joggen müssen. Verdammt – ich war wirklich unsportlich. Darauf hoffend, dass mich niemand sah, lief ich schwer atmend nach Hause. Ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Anna würde mich umbringen.

Mit unstetigen Händen schloss ich die Haustür auf, quälte mich die Treppe hoch und öffnete schließlich die Wohnungstür.

„Anna? Anna, bin ich noch rechtzeitig?“ In der Wohnung war es komplett dunkel und ich stolperte etwas auf dem Weg zum Wohnzimmer. „Hat sie schon angefangen? Deine…“

Als ich endlich den Lichtschalter getroffen und das Wohnzimmer erhellt hatte, begrüßte mich ein wütendes Knurren. Meine Stimme versagte fast, als ich meinen Satz beendete. „…Verwandlung?“

In den Überresten unseres ehemals intakten Wohnzimmers lag ein riesiger brauner Wolf, der mich mit dunklen Augen beobachtete.

„Ach verdammt. Es tut mir wirklich leid, Schatz, ich hab‘ nicht getrödelt! Du glaubst gar nicht, was –“ Mit einem lauten Knurren unterbrach Anna meine Geschichte und rappelte sich auf. Es dauerte nach der Verwandlung immer etwas, bis sie sich an vier Füße gewöhnt hatte. Ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, tapste sie an mir vorbei ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Das konnte ja ein lustiger Vollmond werden.

Beitragsbild: Unsplash