Aktuelles Kultur

Kurzgeschichte: Der Fluchtwagen

Eine Kurzgeschichte von Maike Hübner

„Verbrenn den Fluchtwagen“, ihre Stimme klang bestimmt, war jedoch kaum mehr als ein Flüstern. Ohne mich noch einmal anzusehen, machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ die Garage. Das Geräusch ihrer Absätze hallte auf dem betonierten Boden wider. Verbrennen? Seufzend ließ ich die Decke über den Wagen fallen und folgte ihr. Erneut spürte ich Wut und Verzweiflung in mir aufsteigen. Verbrennen. Ein Auto. Wie sollte das funktionieren? Allein, dass sie das Wort Fluchtwagen verwendete…

Draußen dämmerte es bereits und als ich die Kälte bemerkte, fröstelte ich und zog meinen Mantel fester um mich. Der verdammte Wagen stand in einer kleinen Garage mitten im Nirgendwo. Niemand würde je auf ihn aufmerksam werden, oder?

„Verbrennen“, murmelte ich. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet.

„Am besten so schnell wie möglich“, gab sie zurück und stieß dabei Rauch in die kalte Luft aus. Als ich den Geruch vernahm, überkam mich der Drang ihr die Kippe aus der Hand zu nehmen und kurz daran zu ziehen, doch schnell verdrängte ich den Gedanken wieder.

„Das ist Wahnsinn.“ Ich sah sie eindringlich an.

„Das ist es schon lange.“

Kurz schaute ich mich prüfend um, merkte allerdings im selben Moment, wie überflüssig das war. Wir waren allein im Nirgendwo, weit außerhalb der Stadt. Hinter uns ragten die Bäume des Waldrandes hoch und vor uns lag die schmale verlassene Straße, an der die Garage stand und an der sich Felder und Wiesen säumten. Unsere Autos hatten wir trotzdem einige hundert Meter entfernt in verschiedenen Richtungen geparkt. Vorsichtshalber, man wusste ja nie.

„Und wie zum Teufel stellst du dir das vor?“

Sie zuckte mit den Schultern und warf den glühenden Stummel zu Boden. Die Bewegung entblößte einen Teil des Tattoos an ihrem Hals. Wie lange war es her, dass ich es ganz gesehen hatte?

„Denk dir was aus. Bis dann.“ Sie drehte sich um und ging.

Foto: Maike Hübner

Ich sah zu, wie ihre Gestalt im immer kleiner wurde, bis sie schließlich nach links abbog. Ich wandte mich wieder der Garage zu. Wie konnte es passieren, dass ich nun hier stand? Wie? Wie konnten wir es so dermaßen verkacken? Da war wieder der Kloß in meinem Hals, den ich in ihrer Anwesenheit so erfolgreich vertrieben hatte. Schließlich tat ich es ihr gleich und kehrte der Garage den Rücken, um mich in Richtung meines Autos zu bewegen. War es all das hier wert gewesen? Nein. Das wusste ich mittlerweile ganz klar. Und diese Antwort war es auch, die mich nächtelang wachgehalten hatte und wahrscheinlich noch ewig halten würde. Ich hatte nicht im Geringsten damit gerechnet, was auf uns zukommen würde.

Gedankenverloren schlurfte ich über den Asphalt und erst jetzt bemerkte ich die alte Frau, die im Vorgarten des Kottens stand, der ganz am Ende der Straße vor sich hin witterte. Sie musterte mich eindringlich und ich versuchte sofort ihrem Blick auszuweichen. Ihre knochigen Hände klammerten sich um einen Spaten, der ihr weniger als Gartenwerkzeug, als zur Stütze diente. Wie lange beobachtete sie mich oder vielleicht sogar uns beide schon? Hatte sie mich schon öfter hier gesehen? Ich hatte hier noch nie jemanden wahrgenommen, ich war mir sicher gewesen, dass der Kotten seit jeher unbewohnt war. Meine Schritte beschleunigten sich, ich wollte wie ein normaler Fußgänger wirken. Verdammt, aber in dieser Gegend spazieren gehen? Das erschien mir absurd.

Am Auto angekommen, bemerkte ich, wie sehr ich außer Atem war. Das Alibi normaler Fußgänger war damit endgültig hinfällig. Vorsichtig warf ich einen Blick über meine Schulter. Die Straße war leer und auch von der alten Dame gab es keine Spur. War ich paranoid? Vielleicht hatte sie recht. Der Wagen musste verschwinden, bevor ich den Verstand verlor.

Ich machte mich auf den Weg in Richtung Stadt und der Verkehr nahm zu, je näher ich kam. Häuser und Siedlungen rauschten an mir vorbei, immer wieder staute es sich und abwesend vernahm ich im Radio einen Song von Bosse: „Halt nicht an, halt nicht an, sag mir du bist heim, Zünd den Fluchtwagen an, hab die Sneaker klein …“. Bei dem Wort Fluchtwagen zuckte ich zusammen. Denn wie aus dem Nichts mischten sich Sirenen in die Geräuschkulisse. Sie kamen von hinten. Vor Schreck umklammerte ich das Lenkrad so fest, dass ich sehen konnte, wie meine Knöchel weiß hervortraten. Wie paralysiert beobachtete ich, wie die Autos zur Seite lenkten, um den Weg frei zu machen. Es war vorbei. Sie kamen wegen mir. Sie würden mich erkennen und mitnehmen und ich würde nie wieder auch nur einen Fuß nach draußen setzen. Die alte Frau, sie musste uns die ganze Zeit beobachtet haben. Ich war wie gelähmt, während ihre Stimme meinen Kopf durchdrang: „Verbrenn den Fluchtwagen“. Bilder tauchten auf: Der Tag, an dem es passierte. Der Kauf des Wagens irgendwo in Polen, die Garage, die Flucht, die Polizisten. Ihr eiskalter Blick. Die monatelange und präzise Planung, bei der Abende zu Nächten wurden. Die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten. Ich kannte sie seit dem Sandkasten. Wir beide kamen aus schwierigem Elternhaus. Irgendwann hatten wir uns aus den Augen verloren und schließlich vor zwei Jahren wiedergefunden. Unser Verhältnis war schwierig, aber gleichzeitig intensiv und irgendwie aufregend. Und dann war da immer wieder die Angst, unsere Gesichter irgendwo in den Medien wiederzufinden. Was war nur falsch gelaufen? Schweiß trat auf meine Stirn. Hupen mischte sich unter die Sirenen und holte mich wieder zurück. Was sollte ich tun? Folgte mir jemand? Ich konnte nicht nach Hause fahren. Nicht, wenn sie mir auf den Fersen waren. Und schon gar nicht wollte ich jetzt allein sein. Ich drückte den Fuß auf das Gas und bog rechts ein, immer weiter in Richtung der Plattenbausiedlungen, in deren Straßen ich mich so gut auskannte, wie sonst nirgendwo. Hinter mir war es ruhig.

„Bist du wahnsinnig hier aufzukreuzen?“, wütend zog sie die Augenbrauen zusammen und warf einen Blick hinter mich in das kalte, graue Treppenhaus.

„Keine Sorge. Ich glaube, mir ist niemand gefolgt.“

„Was willst du?“ Nach kurzem Zögern deutete sie mir mit einem Nicken an, einzutreten und warf die Wohnungstür hinter mir zu. „Du hast recht. Das Ding muss weg.“

„Ach tatsächlich. Und deswegen kommst du her? Wie gesagt, erledige die Sache und fertig.“ „Vielleicht… vielleicht wollte ich dich auch sehen…“

Ich konnte sehen, wie sich ihr Körper bei diesen Worten anspannte. Neben ihr auf dem Tisch dampfte der überquellende Aschenbecher.

„Was haben wir besprochen? Keine Treffen mehr! Das eben war eine Ausnahme und das letzte Mal. Du gehst jetzt.“

„Nein, warte. Eben… die Sirenen“, brachte ich hervor. „Ich war völlig fertig.“

„Was redest du da?“ Sie hatte einen Schritt Richtung Tür gemacht und sah mich aus schmalen Augen an. „Ich kann nicht mehr. Das alles…“

„Du wusstest, auf was du dich einlässt“, unterbrach sie mich. „Klar, es ist scheiße gelaufen, aber ich hab‘ keinen Bock eingebuchtet zu werden, nur weil du die Nerven verlierst. Bislang hast du es auch geschafft, die Klappe zu halten und dich unauffällig zu verhalten. Also sorg dafür, dass der Wagen verschwindet und keiner was merkt, verstanden? Und jetzt verschwinde.“ Ihr Ton war scharf. Ich hatte sie selten so viel reden gehört. Bei unseren Treffen, vor allem nach der missglückten Sache, hatte sie sich immer bedeckt gehalten. Trotz dessen war es, als könnte sie nichts aus dem Gleichgewicht bringen. Sie wusste schon immer, was sie wollte. Gerade das machte sie so attraktiv. Aber trotz unseres gemeinsamen Schicksals, war sie nicht die richtige Person, um mit ihr über meine Sorgen zu sprechen. Ich musste es beenden.

„Ich komme mit“, sagte sie plötzlich. „Sonst schaffst du es ja nie, das Ding zu vernichten.“ Überrascht sah ich sie an. Es fühlte sich besser an, das Ganze gemeinsam fertig zu bringen. Schließlich saßen wir im selben Boot. Ich nickte. „Gut, bis dann.“

Wenige Tage später fuhren wir samt Benzin und Brandbeschleuniger zur Garage. Wir bugsierten den Wagen auf eines der umliegenden Felder, das brach lag. Als ich das Feuer entzündete, konnte ich spüren, wie sich neben die Erleichterung auch Wehmut mischte. Es loderte. Noch einmal gingen meine Gedanken zurück zu dem Tag: Ein Banküberfall und eine filmreife Flucht. Irgendwie brachte mich das in diesem Moment zum Schmunzeln. Wir waren ihnen entkommen. Wir beide. Ich betrachtete die Flammen und sah, wie sie sich in ihren Augen widerspiegelten und sich ein seliges Lächeln auf ihre Lippen setzte. Ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde. Hinter uns heulten die Sirenen.

 

Beitragsbild: Maike Hübner.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.