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Kurzgeschichte: Blackout

Eine Kurzgeschichte von Sabrina Szameitat.

Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Schon wieder. Als ich mich gerade gemütlich unter der dunkelroten Couch im Wohnzimmer eingerichtet hatte, vernahm ich ein lautes Stampfen aus der Küche. Irgendjemand hatte die Tür der Speisekammer lautstark geöffnet und nach etwas Essbarem abgesucht. Hoffentlich keine Chips, dachte ich. Hätte ich Hände wie die Menschen, mit denen ich seit nun etwa einem Jahr unter einem Dach lebte, würde ich diese zum Gebet falten. Chips aufsaugen zu müssen, das ist eine wahre Tortur, auch für einen so hochleistungsstarken Staubsaugerroboter wie mich: Es ist eine Herausforderung, die kleinen brüchigen Krümel aufzusaugen, ohne dass diese dabei zerbröseln. Ich konnte auch nicht nachvollziehen, was an den orangefarbenen Crackern so besonders gut schmeckt. Einmal musste ich extrem salzige Chipskrümel aufnehmen und hatte danach erst mal mit Verdauungsproblemen zu kämpfen. Zwei Tage war ich nicht einsatzbereit. Es war eine Riesensauerei.

Meine Befürchtungen schienen sich erst mal nicht zu bewahrheiten. Der jüngere Bewohner des Einfamilienhauses öffnete schwungvoll die Tür des Wohnzimmers und kam mit einer noch nicht geöffneten Plastiktüte hinein. Ich schielte auf die Verpackung, die mich nicht an die typisch rot-grüne Chipstüte erinnerte. Was für ein Glück. Der Junge hieß übrigens Julian – das hatte ich bei diversen Gesprächen mit seinen Eltern mitbekommen – und ging in die elfte Klasse eines Gymnasiums. Julian schnappte sich die Fernbedienung des Fernsehers und warf sich mit einem lauten Seufzer auf die Couch – direkt auf den Platz, unter dem ich mich gerade für meine kleine, wohlverdiente Pause eingerichtet hatte. Ich merkte, wie sich die Lederpolsterung ein Stück in meine Richtung nach unten wölbte. Es brauchte einige Minuten, ehe sich Julian für einen Sender entschieden hatte.

Da meine Uhr mir gerade einmal 11.32 Uhr anzeigte, war das Fernsehprogramm eher für die ältere Generation ausgerichtet. Auf dem Bildschirm konnte ich nun erkennen, wie in einer Küche mehrere verschiedene Gerichte zubereitet wurden. Die Menschen trugen alle einen weißen Kochhut und eine rote Schürze, was irgendwie albern aussah. Komisch, dass diese Sendung (ich meinte, den Titel „Die Küchenschlacht“ zu erkennen) anscheinend so einen Erfolg haben konnte. Es raschelte. Nach einigen Sekunden stieg mir der Geruch von Knoblauch, geröstetem Brot und Olivenöl ins Getriebe. Ungewöhnlich für den typischen Fraß aus einer Plastiktüte, dachte ich.

Wie ich schnell bemerkte, währte mein Glück nicht lange. Ich stellte fest, dass ich es mit einer weitaus größeren Herausforderung als Kartoffelchips zu tun hatte: geröstetes, krosses Knoblauchbrot. Immer wenn sich Julian einen Bissen davon in den Mund schob, fielen winzige Brösel auf den Boden. Und das hieß für mich: „Aktivität eingeschaltet“. Denn sobald meine Sensoren einen unsauberen Fleck auf dem dunkelbraunen Holzboden entdeckten, setzte ich mich automatisch in Bewegung. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ein lautes „Bing“ ertönte, weil ich meine dunkelgrünen Bürstchen ausfuhr. Ein grünes Lämpchen oberhalb der linken Bürste leuchtete auf. Ich begann zu surren.

Ich brachte mein Getriebe gerade in die richtige Position, als eine große Hand plötzlich nach unten schnappte. „Boah Robbie, nicht jetzt!“, keifte mich der Junge an und machte Anstalten, sich zu bücken. „Du nervst einfach nur!“ Vielen Dank dafür. Wie gerne ich geantwortet hätte: „Meinst du, ich hab Lust, dir ständig deinen Dreck wegzumachen!?“ Den Satz hatte ich schon oft in diesem Haushalt gehört, zum Beispiel, wenn sich die Eltern mal wieder stritten. Doch damit nicht genug. Einige Sekunden später sah ich in die dunkelgrünen Augen von Julian. Er hatte sich hinuntergebeugt, um meine Aktivität wieder zu deaktivieren. Ich hasste es. Klar, ich hatte keine Lust sauber zu machen und die dämlichen Krümel aufzusaugen; aber wenn man mich erst einmal manuell ausstellte, fiel ich immer für wenige Augenblicke in eine Art Schockstarre. Ich weiß nicht, was sich die Produktentwickler dabei gedacht hatten, aber für mich war das einfach nur schmerzhaft.

Julian aber konnte das nicht wissen und ihn hätte das wohl auch nicht wirklich interessiert, vermutete ich. Er betätigte den roten Knopf neben dem grünen Lämpchen. Kurz danach ertönte wieder ein „Bing“ und ich merkte, wie sich meine Lasersensoren abrupt einzogen. Wie gerne ich doch einmal laut geschrien hätte. Mir wurde schwarz vor Augen. Bis ich mich von solch einem mutwilligen Ausschalten erholt hatte, dauerte es erfahrungsgemäß einige Minuten.

Robbie in Action
Foto: Sabrina Szameitat

Das nächste, was ich sah, waren – das kann doch nicht wahr sein! – Knoblauchbrote verteilt auf dem schönen, von mir sauber gehaltenen Holzboden. Scheinbar hatte Julian bei dem Manöver, mich auszuknipsen, die Tüte herunterfallen lassen. „Mist“, fluchte er. Noch immer benommen von dem Blackout, hörte ich energische Schritte, die sich der Wohnzimmertüre näherten. „Julian? Hast du schon deine Hausaufgaben gemacht?“, fragte eine freundliche, aber auch bestimmte Frauenstimme. Seine Mutter. Sie öffnete die Tür und stellte sich demonstrativ vor den Fernseher. „Das – das ist doch nicht die Möglichkeit! Wenn du schon einen Tag zuhause bleibst, dann setz dich doch bitte an den Schreibtisch.“ Ich konnte erkennen, wie ihr langsam der penetrante Geruch des Knoblauchbrots in die Nase stieg und kurz danach der Blick auf den verschütteten Haufen fiel. „Und vor allem: Krümel nicht immer so. Warum hat Robbie noch nicht losgelegt?“ Julian nahm die Fernbedienung und drehte die Lautstärke des Fernsehers etwas herunter, als das Publikum gerade wegen eines gelungenen Schoko-Desserts lautstark klatschte. „Mama, Robbie ist immer soo laut. Und die Hausaufgaben mach ich gleich. Mathe ist erst für übermorgen.“

„Der Staubsaugerroboter hat viel Geld gekostet“, entgegnete sie. „Das ist ein Privileg, dass wir nicht mehr saugen müssen. Du kennst das doch von deinen Freunden, die ständig selbst ihr Zimmer sauber machen müssen.“ Dann beäugte sie noch einmal das mittlerweile sehr intensiv riechende Knoblauchbrot und dachte kurz nach: „Aber vielleicht sollten wir die Stücke Brot doch selbst aufheben. Wer weiß, ob der Roboter so große Mengen Dreck auf einmal aufsaugen kann…“. Danke! Das war auch mein Gedanke gewesen. Schon die Chips hatten mich länger außer Gefecht gesetzt. Was würde Knoblauchbrot in mir auslösen? Julian jedenfalls hatte diesen Gedanken augenscheinlich nicht: „Mama, du predigst doch selbst immer, dass Robbie über 1500 Euro gekostet hat. Dann sollte er auch dazu in der Lage sein“. Ganz schön patzig. „Und gerade deshalb sollte man vorsichtig mit solchen Gegenständen umgehen, findest du nicht?“, sagte die Mutter. Sehr gut, eine Verbündete. Ich hatte das Gefühl, dass sie das Thema nun ausdiskutieren wollte, denn sie schaltete plötzlich den Fernseher aus. Julian sprang in Sekundenschnelle vom Sofa aus und rief: „Was machst du da? Ich räum‘ das Brot gleich weg. Man!“.

Während sich die Diskussion nun weiter zum Streit aufbauschte – mehrmals hörte ich meinen Namen, die Wörter „Vater“, „Hausaufgaben“ und „Fußballtraining“ – merkte ich, wie sich mein Getriebe langsam wieder in Gang setzte. Nein! Ich hatte Angst. Niemand von den beiden Streithähnen hatte daran gedacht, das Knoblauchbrot aufzuheben. Ich fühlte mich, als müsste ich einen steilen Berg ohne Ausrüstung oder gar Sicherung erklimmen. Das laute „Bing“ ertönte. Ich fuhr meine dunkelgrünen Bürstchen aus. Das grüne Lämpchen oberhalb der linken Bürste blinkte. Und ich begann zu surren. Noch nie wünschte ich mir mehr, dass sich Julian bückte und mit seiner großen Hand den roten Knopf drückte.

Aber es war zu spät. Ich bewegte mich in Richtung der müffelnden Brot-Cracker und stolperte. „A-a-aktivität eingeschaltet. A-a-a-ktivität einge-scha-gescha-schaltet“. Das Blackout überwältigte mich. Aber dieses Mal war es anders, schmerzhafter, intensiver.

Ein letztes Mal leuchtete das grüne Lämpchen oberhalb der linken Bürste auf.

Foto: Jakub Novacek/ Pexels

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