
Meine Schritte hallen durch den Palast. Er ist erfüllt von Geräuschen, die um Aufmerksamkeit buhlen. Den Gang hinunter höre ich Gerede – einige Stimmen laut, andere kaum hörbar. Aus der anderen Richtung höre ich mein Lieblingslied, dann wechselt der Song. Die nächste Melodie kommt mir bekannt vor, doch ich bin mir sicher das Lied nie zuvor gehört zu haben. Dieser Raum scheint zu wissen, welche Musik ich liebe!
Mein Ziel ist das Zimmer, in dem Kurzvideos an die Wand projiziert werden. Ich mache es mir auf der bunten Couch bequem und der erste Clip startet. Es hat gedauert, bis ich das System verstand: Nachdem der Raum analysiert hat, was ich gerne schaue, präsentierte er mir nur, was ich mag. Die Welt steht mir auf der Leinwand offen. Ich schaue mir Katzenvideos, ausgefallene Reiseorte und Videos zu meinem Lieblingsbuch an. Hin und wieder unterlaufen dem Raum Fehler und er zeigt mir: halbnackte Frauen, angezogene Fußballer und Unfälle.
Sicher ein Versehen. Jede gute Software hat ihre Macken.
Einige Male will ich wegschalten, doch etwas hält mich davon ab. Ich muss hinsehen. Ich will hinsehen. Nach einem weiteren Video, was einen Unfall zeigt, schalte ich die Leinwand aus. Ein Blick auf die Uhr lässt mich zusammenfahren. Mein Nacken ist steif. Und als ich aufstehe, knackt jeder Knochen.
Ich fühle mich so leer. Obwohl ich so vieles gesehen habe, kann ich mich an nichts erinnern. Lediglich die Bilder des Unfalls sind auf meine Netzhaut gebrannt. Derartiges will ich nicht sehen… dennoch zeigt es mir der Raum. Der Raum, der genau weiß, was ich mir ansehen werde. Ein Gefühl der Ohnmacht beschleicht mich.
Kontrolliere ich den Raum oder kontrolliert er mich?
Er zeigt mir die Videos und kontrolliert, was ich sehe. Er orientiert sich an dem, was mir die Lust nimmt zu gehen. Wie kam es dazu, dass ich Dinge sah, nach denen ich nie aktiv suchen würde? Bin ich „die Böse“ in diesem Szenario? Will ich derartiges sehen? Ich gebe schließlich den Input. Das System hinter dem Raum, der Algorithmus, verhält sich wie die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Wir, die Zuschauenden, sind die Eltern. Die Eltern, die ihren Kindern Werte vermitteln, positive und negative. Das Kind, der Algorithmus, schaut hin und spiegelt unser Verhalten. Mit dem Unterschied, dass Kinder mit ihrem Verhalten nicht erzwingen möchten, dass wir ihnen ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Der Algorithmus hingegen möchte dafür sorgen, dass wir möglichst lange bleiben.
Ich fühle mich schlecht. In diesem System bin ich diejenige, die dafür sorgt, dass erschreckende Dinge gezeigt werden, weil ich nicht wegsehen kann. Eine Tatsache hielt mich davon ab mich als „unethische Person“ vor Scham verstecken zu wollen. Ich habe diesen Algorithmus nicht gemacht. Das waren andere Menschen, die nicht hinterfragt haben, ob ihre Programmierung bedenklich ist. Doch darf ich mich hinter dieser Ausrede verstecken? Wenn wir den Algorithmus nicht losgelöst von uns betrachten können, sondern anerkennen müssen, dass er einen Teil unserer Menschlichkeit übernommen hat, auch die schlechten Anteile: die Gaffenden, Rassistischen und Sexistischen. So ist es unsere Gesellschaft, die sie ihm aufgedrängt hat. Das waren wir alle.
Der Algorithmus ist keine Maschine, die unabhängig von uns existiert.
All das lässt mich enttäuscht zurück, von mir und von der Menschheit. Soll ich die Zimmer des Palastes abbrennen? Sie dem Erdboden gleichmachen? Vorerst entscheide ich mich dagegen. Stattdessen besuche ich meine Eltern, um herauszufinden, ob sie die „richtige“ Variante kennen an Informationen zu gelangen. Sie werden nicht beeinflusst von medialen Algorithmen. Ich hoffe herauszufinden, wie ich mich informieren kann, ohne manipuliert zu werden.
Im Haus meiner Eltern stapeln sich Zeitschriften, Platten und Bücher. Ich höre Gerede in der Küche-sie scheinen Besuch zu haben. Lautstark artikulierte Argumente heischen darum gehört zu werden. Jeder möchte Recht haben. Es war das, was ich gesucht hatte: Diversität. Gleichzeitig schreckt mich gefährliches Halbwissen und die Aggression der Diskussion ab. Meine Finger gleiten stattdessen über die Zeitungen-ich schnappe mir vier.
Bepackt mit meiner Ausbeute setze ich mich in den Garten und lese jede Zeitung, ohne Ablenkung. Sie behandeln das gleiche Thema, vertreten aber verschiedene Standpunkte und wägen Argumente gegeneinander ab. Argumente, die ich so nicht bedacht hätte.
Auch die Zeitschriften wollen meine Aufmerksamkeit, doch waren sie nicht so penetrant. Für mich macht es den Unterschied, dass ich die Zeitschriften bewusst gewählt habe.
Sie haben mich nicht gezwungen zuzuhören. Ich habe sie wahrnehmen dürfen und meine eigene Meinung bilden können.
Die letzte Zeitung lese ich nur für mich. Ich genieße die Stille und blättere durch das Modemagazin. Es will mir erzählen, dass ich mit den 500 Euro teuren Schuhen glücklich werde. Ich grinse-es ist immer das Gleiche…
Autorin: Christina Weise