Am 26. Mai war Europawahl. Nicht nur auf dem klassischen Weg der Informationsbeschaffung mit Griff zur Zeitung oder Fernbedienung war es möglich, sich über aktuelle europaspezifische Parteiprogramme schlau zu machen. Auch auf den sozialen Netzwerken gab es in den letzten Wochen nur dieses eine Thema, welches von Influencer*innen aufgegriffen wurde. Was die damit zu tun haben? Hinter dem Klischee der narzisstischen Beautyqueens steckt scheinbar eine ernsthaftere und sogar politische Note. Die Influencer*innen nutzten ihre Reichweite in diesem Zusammenhang ausnahmsweise nicht dazu, Lippenstifte zu bewerben und Fashion Hauls hochzuladen, sondern riefen ihre Follower*innen dazu auf, gemeinsam wählen zu gehen.
Lisa Victoria Hertwig
In unserem Alter gehört es fast zum guten Ton, auf Social Media unterwegs zu sein, auch wenn dies langsam ins Gegenteil umschlägt (Stichwort: Digital Detox und Entschleunigung). Das jüngere Ende der Gen Y und die gesamte Gen Z wuchs ja sogar mit allerlei Bildschirmen und Touchscreens auf, von der Wiege an! Manchmal ist es sogar eine Notwendigkeit, je nach Interesse, Studium und Job. Während alles unter dem Vorwand begann, mit seinen Freund*innen Erfahrungen und Fotos aus Alltag und Urlaub zu teilen, entwickeln sich die Plattformen immer mehr zum Leitmedium mit Informationsgehalt. Trotz verschiedener Plattform-Politiken, die wie ein Regelwerk funktionieren, scheinen sich die Themen auf Facebook, Instagram und Twitter immer wieder zu kreuzen – Willkommen in der Schnittmenge der Filterbubble! Vor allem auf Instagram war es zuletzt ungewohnt politisch, denn am 26. Mai war Europawahl.

Auch wenn die Präsenz und die Beschäftigung mit relevanten Themenschwerpunkten auf Instagram und Co. von vielen jungen Nutzer*innen mittlerweile zur Informationsbeschaffung genutzt wird, ist das nicht mit klassischen Medien zu vergleichen; immerhin gibt es ausgebildete Journalist*innen, die sorgfältig recherchierten Content aufbereiten und der Gesellschaft zu Verfügung stellen. Da können die Influencer*innen ja wohl nicht mithalten. Oder doch? Immer öfter schleichen sich in Profile von Menschen mit sogenannter öffentlicher Persönlichkeit gesellschaftlich relevante Inhalte jenseits von plakativem Lifestyle. Momentan ist das eben Politik, angestoßen von der Europawahl. Denkt man an das Klischee der Influencer*innen, haben wir natürlich erstmal schillernde Make-Up-Tutorials, Shopping-Hauls und Smoothie-Acai-Bowls mit Chia-Matcha-Latte im Kopf. Kommt man einmal darüber hinweg, zeigt sich noch eine andere Seite:
Eine Handvoll deutscher Influencer*innen und Instagrammer*innen nutzte ihre Reichweite und machte es sich zur Aufgabe, über die Europawahl zu informieren, Parteien vorzustellen und Haltung zu zeigen. Dass dahinter natürlich auch cleveres Selbstmarketing steckt, ist kein Geheimnis, aber warum auch nicht? Wer die Pole Position einnahm und wie die Strategie dahinter aussah, habe ich einmal zusammengefasst:
Politik für Gen Y
Sophie Passmann ist eigentlich Radiomoderatorin bei 1Live, außerdem Autorin für verschiedene Medien, nicht zuletzt ihrem eigenen Buch „Alte weiße Männer“. Auf Twitter folgen ihr mehr als 80.000 Menschen, auf Instagram sind es knapp 70.000. Durch ihr Studium der Politikwissenschaft ist es naheliegend, dass sie ihre Öffentlichkeit auch nutzt, um politische Inhalte darzustellen. Bekannt geworden sind ihre Instagram-Stories, in denen sie verschiedenste Sachverhalte mit alltäglichen Dingen vereinfacht erklärt – alles begann mit den Abseitsregeln beim Fußball, welche sie mit Konservendosen nachspielte. Doch dabei sollte es nicht bleiben: Es folgte beispielsweise ein kurzes Video zur Bundestagswahl 2017, als Passmann ihre Briefwahlunterlagen zelebrierend „unboxte“ und anpries – wie es sich für eine gute Influencerin gehört. Nun ist also die Europawahl dran.

Doch neben dem subtil mitschwingenden Aufruf, überhaupt wählen zu gehen, leistet Passmann Aufklärungsarbeit: Was zur Hölle ist eigentlich die Europäische Union? Was machen die in Brüssel überhaupt? Als Weiterführung dieser Serie schreibt sie auch in ihrer Kolumne „Alles oder nichts“ im Zeitmagazin über ihr Faible für die Europäische Union mit der Frage, ob man diese Institution lieben kann – Kitsch goes Politik goes Hipstertum. Ihrer Direktheit und ihrem Humor ist es zu verdanken, dass unter der jungen Generation komplexe und oft langweilige Themen wie Politik plötzlich von Interesse sind. Und Passmann wird automatisch zur Galionsfigur der EU, selbstverständlich im Souvenir-Pullover mit Sternchen.
Crème de la Fashion-Blogger*innen
In einem Artikel über Influencer*innen darf Lisa Banholzer natürlich nicht fehlen. Gemeinsam mit ihrer Kollegin und Freundin Tanja Trutschnig führt sie das erfolgreiche Medienblog und die Kreativagentur Blogger Bazaar in Berlin und versorgt 143 Tausend Follower*innen mit Content und Inspiration rund um die Themen Mode und Lifestyle. Doch auch hier steckt mehr hinter der plakativen Influencer*innen-Fassade als teure Markenkleidung und Schminkkoffer.

Unter dem #diesmalwählich (wie sollte es auch anders sein, ohne Hashtag und Tagging geht hier nichts) veranstaltete das BB-Duo gemeinsam mit Theaterschauspielerin, Fairknallt-Bloggerin und Model Marie Nasemann eine EU-Wahlparty in der Berliner König Galerie. Unterstützt wurden sie von Gästen wie Diana zur Löwen und Lea van Acken, die mit inspirierenden Talks die Menge davon überzeugen wollten, warum wählen gehen so wichtig ist. Spätestens hier sollte klar geworden sein, dass die Europawahl mehr als jedes andere politische Event zu einem ‘social gathering’ mutierte und jede Menge Statement-Charakter hat – der sich auf Instagram gut vermarkten lässt.
Die Zukunft ist grün!
Auch Luisa Neubauer spielt in dieser Runde mit. Bekannt wurde sie als Klimaaktivistin durch ihren Einsatz bei den Fridays for Future Veranstaltungen. Als Mitbegründerin der Bewegung setzt sie sich gemeinsam mit Schüler*innen und Studierenden für eine bessere, grünere Zukunft ein – und liegt damit voll im Trend. Vegane Ernährung, Zero Waste und allgemeines Öko-Bewusstsein hat nicht länger mit Waldorfschulen und Hippies zu tun, sondern findet in vielen Haushalten und der persönlichen Lebensgestaltung Platz. Doch die Politik hängt da ein wenig hinterher. Klimaschutz steht auf Neubauers Agenda sicherlich an erster Stelle, sodass sie es sich natürlich nicht nehmen lässt, ihre Follower*innen um Aufmerksamkeit für die Europawahl zu bitten. Denn diese Europawahl ist Klimawahl!

Nicht nur informativ, sondern ziemlich geschickt geht die Studentin dieses Vorhaben an: „Möchtest du mit mir wählen gehen“ wurde Neubauer von Einhorn-Gründer Philip Siefer gefragt. Die Antwort lautete natürlich ja mit Ausrufezeichen und es folgte ein großes Potpourrie an kecken Wortspielen: der Wahlantrag, die Verwählten und Auserwählten, Verwählung und Wahl is in the Air. Dieser ganze Marketing-Clue kommt von ProjectTogether, ein selbst ernannter digitaler Inkubator für soziale Innovation. Ein einfacher Instagram-Post verbreitete sich wie ein Lauffeuer und schnell war die gesamte Berliner Influencer*innnen-Szene dabei, sich „zu verwählen.“
Social Media gegen Politikverdrossenheit
Wie gesagt, von Influencer*innen, ihren Social Media-Präsentationen und Selbstdarstellungen kann man halten was man will, aber sie zu diskreditieren wäre in unserer heutigen digitalen und diversen Gesellschaft nicht nur verpönt, sondern schlichtweg falsch und ignorant. Außerdem klingt das politische Interesse, die damit verbundene Aufklärungsarbeit und eine klare Positionierung in erster Linie doch lobenswert? Diese scheinbar ehrlich passionierte und ebenso kluge Marketingstrategie zur Europawahl funkioniert am besten im Gesamtpaket: Gemeinsam treten die Influencer*innen im blauen Sternchen-Pulli auf, sie erzählen von ihren jobbedingten Reisen durch Europa, von interkulturellen Beziehungen und den Freiheiten, auf die keine*r verzichten mag. Gepaart mit Postings und Stories auf Instagram, versehen mit wortgewandten Hashtags und Taggings war es nahezu unmöglich, in diesem Jahr an der Europawahl vorbeizukommen. Für die jungen Leute, denen nach wie vor ach so viel Politikverdrossenheit vorgeworfen wird, sollte das Grund genug gewesen sein, den Weg zur Wahlurne einzuschlagen.