„Ich muss jetzt los. Es war wirklich schön mit dir, Liv“, verabschiede ich mich von ihr und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie schaut zu Boden, um ihren Blick kurz darauf etwas verunsichert wieder zu heben. „Weißt du Tim, du brauchst eigentlich nicht mehr herzukommen“, erwidert sie und ich bin mir nicht sicher, ob sie sich gerade wieder einen Spaß mit mir erlaubt. Ich lächele sie an, wieso sollte sie das auch ernst meinen? „Wie meinst du das ‘ich brauche eigentlich nicht mehr herzukommen’? Heute wollte ich sowieso nicht mehr hierhin“, antworte ich etwas verunsichert. Plötzlich senken sich ihre Mundwinkel herab und sie wirkt ernst: „Tim, ich bin schwanger. Es ist nicht mehr nötig, dass wir uns sehen.“
Ich weiß gar nicht wie ich reagieren soll. Dass sie schwanger ist, ist toll. Sie wollte schon immer ein Kind und nun wird ihr Leben endlich vollständig erfüllt sein. Seit Jahren schwärmt und träumt sie davon ein eigenes Kind zu haben. Die Gedanken schwirren nur so in meinem Kopf herum, ich verstehe immer noch nicht wieso sie mich wegen des Kindes nicht mehr um sich haben will. Es ist doch unser Kind, sehen will ich es schon. „Liv, ich weiß, das Kind wird bei euch aufwachsen. Aber wenn es doch auch meins ist, darf ich es dann nicht sehen?“, frage ich sie vorsichtig. Sie schaut mich genervt an und streicht sich ihre langen, dunklen Haare aus dem Gesicht: „Du weißt doch wie das bei uns ist. Deine Pflicht als Mann ist erfüllt. Außerdem kann es gut sein, dass es nicht einmal dein Kind ist“. Ihr Blick voller Unverständnis, ihre Worte scharf.
Sie kann mir nicht einmal sagen, ob es mein Kind ist und ich bin ein Idiot, weil ich das nicht erwartet habe. Seitdem ich sie kenne, treffe ich gar keine anderen Frauen mehr. Sie jedoch will mich nicht mehr um sich haben. In meinem Kopf wiederhole ich diesen Gedanken immer wieder. Es dauert eine Weile bis ich ihn auch wirklich begreife. „Nun, dann werde ich wohl meine Nichten abholen gehen. Hier habe ich wohl nichts mehr zu suchen“, erwidere ich nach langem Denken und eile, etwas beschämt, zur Tür. Sie begleitet mich hinaus, wir verbleiben aber wortlos. Als ich draußen stehe, nimmt sie den Hut von der Türklinke. Sie hat ja nun mal keinen männlichen Besuch mehr, sie ist eine freie Frau.

Auf dem Weg zum Spielplatz, schaffe ich es nicht mich von meinen Gedanken über das Gespräch mit ihr zu befreien. Olivia und ich kennen uns seit fast drei Jahren. Täglich haben wir uns gesehen, unsere größten Geheimnisse ausgetauscht und zusammen gelacht. Ich wusste, dass sie sich auch mit anderen Männern traf. Bei ihnen dachte ich immer, sie wären nur dort, um ihre männlichen Pflichten zu erfüllen, ich redete mir jedoch ein, ich hätte eine andere Bedeutung für sie. So kann man sich eben in Menschen täuschen. Ich laufe den gräsernen Hügel in Richtung Spielplatz hinab und grüße die anderen Männer, die ihre Nichten und Neffen abholen. Sie stehen gemeinsam im Kreis und unterhalten sich. Manuel winkt mir zu, suggeriert ich soll mich ihnen anschließen, aber ich bin nach allem, was gerade passiert ist, einfach nicht in Stimmung.
Die Kinder laufen auch schon auf mich zu und ich mache eine Handbewegung, um ihm zu erklären, dass ich keine Zeit mehr habe. Ich beuge mich runter, um Nina und Ella in die Arme zu nehmen. „Onkel Tim, wir haben dich vermisst“, ruft Nina. „Onkel Tim hat euch auch vermisst“, antworte ich ihr. Ich nehme Nina an die rechte und Ella an die linke Hand und sie erzählen mir auf dem Weg nach Hause von ihrem Tag. Der Himmel ist heute klar, doch aus der Ferne lassen sich ein paar graue Wolken erkennen. Wir scheinen gerade rechtzeitig losgelaufen zu sein.
Zu Hause angekommen lösen sich die Kleinen schon aus meinem Handgriff und laufen in das Esszimmer. Frustriert vom Tag werfe ich meine Schlüssel in die bunt bemalte Keramikschale im Flur. Als ich das Esszimmer betrete, ist der Tisch schon gedeckt und ein Teil meiner Familie sitzt bereits zusammen. „Es ist so schrecklich, sie sind so verantwortungslos und halten sich nicht an ihre Aufgaben. Typisch Männer, nichts schaffen sie allein“, höre ich meine Schwester Julia klagen. „Sei doch froh, dass du sie arbeiten lassen kannst. Ich habe heute so unglaubliche Rückenschmerzen von der ganzen Feldarbeit“, erwidert meine Schwester Alicia. Sie ist noch in ihrer Arbeitskleidung, ihr Oberteil ist ganz verdreckt von der Erde und die Hose ist ihr an einer Stelle aufgerissen. Nina hat sich schon auf ihrem Schoß platziert und gibt ihr keine Möglichkeit kurz zu entkommen, um sich umzuziehen. Die beiden vermissen sich über den Tag eben immer sehr. Alicia arbeitet täglich fast zehn Stunden, sie bringt das Geld nach Hause.
Julia hat sich währenddessen schon in gemütlichere Klamotten geschmissen, sie trägt eine Jeans und ein lockeres Hemd. Zur Entspannung stopft sie es nicht in die Hose und lässt es stattdessen lässig über ihre Hüften fallen. Diese Frau wurde als Chefin zur Welt gebracht. Alicia, Leon und ich mussten immer nach ihrer Pfeife tanzen. Kein Wunder, dass sie jetzt eine ganze Firma leitet. Mit ihren Aussagen über ihre männlichen Mitarbeiter löst sie jedoch regelmäßig Streits mit mir aus. Sie generalisiert das Verhalten von uns Männern, will uns als dumm darstellen. Dabei schätzt sie ihre Brüder doch so sehr und würde nie ein schlechtes Wort über uns verlieren, wie absurd.
„Jetzt setzt euch doch endlich alle zum Essen, nie kriege ich euch auf Anhieb zusammen!“, ruft Mutter und setzt sich an die Spitze des langen Tisches. Leon stellt noch den letzten Topf auf die Unterlage und ich sehe ihn heute zum ersten Mal wieder. „Was geht?“, fragt er lässig und erhebt sich als wir alle zusammensitzen sofort wieder aus seinem Stuhl um uns Suppe einzuschenken. „Erzählt doch mal, was gibt es Neues in der Stadt? Ich verlasse das Haus so selten, da vermisst man es von den anderen zu hören“, sagt Mutter mit einem sanften Lächeln, ihre Augen voller Nostalgie. „Nun, ich war heute kurz bei meiner Freundin Maya, es gab etwas zu feiern. Sie ist schwanger und überglücklich.“ erzählt Julia ganz aufgeregt und meine Familie wirft lauter Glückwünsche in den Raum, obwohl diese Maya doch nicht einmal anwesend ist um sie zu hören. „Und weiß man denn, wer der Vater ist?“, werfe ich ein und es wird ganz still. „Nun, ist das denn überhaupt wichtig, Tim?“, fragt Julia verdutzt und schiebt sich etwas von ihrem Brot in den Mund. Leon nimmt einen großen Schluck von seinem Wasser. „Na ja, wer auch immer er ist, er hat seine männliche Pflicht erfüllt“, sagt Mutter und lacht. Alle anderen am Tisch lachen wie im Chor erleichtert auf. „Ja, genauso ist es doch“, schließt Julia ab, ein sehr eigenartiges Szenario. Mutter hat wohl die Stimmung gerettet, man darf ja keinen Funken Kritik an unserer traditionellen Lebensweise üben.
Männliche Pflicht, was soll das überhaupt bedeuten? Normalerweise ist das der Punkt an dem ich mit meinem Essen fortfahre und mich nicht mehr an der Konversation beteilige, doch die Ereignisse des Tages lassen eine Wut in mir aufkochen. „Habt ihr in eurem bescheidenen Leben je darüber nachgedacht, dass die Aufgabe des Mannes in der Gesellschaft auch über das Zeugen eines Kindes hinausgehen könnte? Dass Männer für Frauen nicht nur Mittel zum Zweck sein können, sondern auch Vertraute und Begleiter für das Leben?“, sprudelt es aus mir heraus und meine Stimme bricht am Ende des Satzes, Mist. Sie schauen mich lange nur an, ich höre kein Wort.
„Wo hast du denn diesen Unfug her? Deine Rolle als Mann in der Gesellschaft ist dir doch bekannt, du kannst die Welt jetzt auch nicht verändern“, sagt ausgerechnet Leon, der als einziger Mann auf meiner Seite stehen sollte. Es sieht allerdings so aus als ob ich ganz allein mit diesem Gedanken stehe. „Tim, du bist doch glücklich mit deinem Leben. Wieso etwas ändern wollen? Wieso treibst du dich mit deinen Gedanken ins Unglück?“, fragt Mutter besorgt. Julia rollt bereits seit einigen Minuten immer wieder mit den Augen, wenn sie mich anschaut, während Alicia sich nun ihren Mund mit Brot zustopft.

„Wisst ihr, letztens wusch ich gerade die Gläser in der Bar und es kamen eine Frau und ein Mann von außerhalb herein. Sie waren zu Besuch und erzählten von ihrem Leben. Sie hielten sich an den Händen und erzählten, dass sie sich ewig schworen nur einander zu lieben. Zu lieben, das ist ihre Pflicht und das, was für sie wichtig ist. Sie hegen eine tiefe Bindung, die sie nur miteinander verspüren“, erkläre ich ihnen und sehe die beiden vor meinem geistigen Auge genau wie an jenem Tag. An dem Tag hatte es mich so verwirrt, dass sie sich an den Händen hielten. Sie sagten, sie wären nur für einander bestimmt und im Leben dieser Frau gab es keinen anderen Mann. Würde sie schwanger werden, wüsste sie, wer der Vater ist und das Kind würde zusammen mit ihnen leben und aufwachsen. Nicht bei ihrer Familie wie es bei uns üblich ist.
Als ich Olivia an dem Tag begeistert von ihnen erzählte, sagte sie wie froh sie sei, dass sie in unserer Stadt lebe, wo alles normal sei und man nicht für immer mit einem Mann zusammenleben müsse. Da hätte ich es schon wissen sollen, wir sahen einander nicht mit denselben Augen. Während ich mich in meinen Gedanken verlor, sind Alicia und Mutter schon zum nächsten Gesprächsthema übergangen. Leon versucht Julia währenddessen meine Sichtweise zu erklären, während sie ihn mit spöttischen Kommentaren piesackt. Irgendwie scheint er doch auf meiner Seite sein zu wollen, auch wenn er mich nicht versteht. „Olivia ist schwanger“, verkünde ich laut und sie werden still. „Und was jetzt? Möchtest du ihre Hand halten und eine tiefe Bindung zu ihr hegen?“, verspottet mich Julia. Die anderen lachen laut über ihren Kommentar und ich merke wie allein ich mit meinen Ansichten bin.
Ich erhebe mich von meinem Platz: „Ich gehe mich besser bettfertig machen.”, sage ich entkräftigt und eile nach oben. Ich kann nicht glauben in was für einer Welt ich gefangen bin, es macht mich wütend zu wissen, dass ich für Olivia nicht mehr sein kann als das was ich bin. Nicht nur für Olivia, für jede verdammte und abgehobene Frau in dieser Stadt. Im Badezimmer drehe ich das kalte Wasser auf und wasche mir das Gesicht. Als ich mir das Handtuch nehme um mein Gesicht abzutrocknen, schaue ich in den Spiegel. Ich frage mich: „Ist das schon alles was du sein kannst? Reicht dieses Leben aus um dich glücklich zu machen? Nein, es muss sich etwas ändern.”