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Nun ist es wieder so weit. Ein weiteres Jahr ist vergangen. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt, denn nun bin ich auf einmal 20. Ich bin kein Teenager mehr. Und erneut ertönt ‚Where’d all the time go‘ von Dr. Dog in meinem Kopf, einer der wohl wenigen Songs, der mich tatsächlich immer begleiten wird. Wie die Zeit rennt…

Ich glaube wir alle kennen das Gefühl von Nostalgie, welches von Jahr zu Jahr immer größer und bedrückender zu werden scheint. Die Zeiten, die sich anfühlten als würden sie nie enden, sind plötzlich nur noch Erinnerungen und die Familie und die Freunde um einen herum wirken auf einen Schlag so viel älter, oder schlagen selbst komplett neue Wege ein. Teilweise versucht man diese vergangenen Zeiten für sich selbst wieder greifbar zu machen, sei es durch Bilder, Videos oder sogar bestimmte Gerüche. Was mich jedoch schon von Anfang an begleitet, ist die Musik. Es ist als wenn alle meine vergangenen Lebensabschnitte unterteilt wären in Lieder und jeder Abschnitt somit ein ganz spezielles feeling durch die Songs hindurch trägt. Häufig sind auch ganz bestimmte Lieder auf genaue Momente in meinem Leben abgepasst, so wie der ABBA Song ,Our Last Summer‘, bei dem ich immer daran erinnert werde wie meine Familie und ich im Sommer an der Strandpromenade entlang gefahren sind mit offenen Fenstern. Es mag vielleicht keine Besonderheit sein, aber besonders durch den Beginn meiner 20er komme ich ins Grübeln. Wie schaffen es Lieder so starke, individuelle Erinnerungen und Gefühle für uns zu beinhalten und wie sieht das ganze eigentlich bei den Menschen in meinem Umkreis aus?

Ich befrage bei der nächsten Familienfeier meine Verwandten und siehe da, vor allem mein Stief Opa, welcher sich schon sein ganzes Leben lang leidenschaftlich gern mit Musik beschäftigt, erzählt mir von den schönsten Erinnerungen. Er fängt an mir von seiner Jugend zu erzählen, in welcher er total verliebt in dieses eine Mädchen war. Das Jahr ist 1965 als er an der Telefonzelle in dem kleinen Örtchen Bruchhausen steht, um genau dieses Mädchen anzurufen. Aufgeregt fragt er sie, ob sie schon das neue Lied ,We Can Work It Out‘ von den Beatles gehört hätte? In dem Lied selbst heißt es: ,Life is very short, and there’s no time.‘ , obwohl es diese spezielle Erinnerung so wirken lässt als gäbe es reichlich Zeit, die es nur mit den richtigen Erinnerungen zu füllen gilt. Und seien es genau diese kleinen unscheinbaren Momente.

Ein Jahr zurück gespult wird mir eine neue einprägende Erinnerung offenbart: Es ist 1964 und die in Soest stationierten Kanadier der UNO Truppen haben ihren eigenen Radiosender. Mein Stief Opa muss zu dieser Zeit umziehen und kriegt sein erstes eigenes Zimmer, welches er sich jedoch mit seiner Schwester teilen muss. Von den Eltern bekommen sie das alte Küchenradio, welches die beiden auf genau den kanadischen Radiosender umstellen, als die Melodie von ,Do Wah Diddy Diddy‘ ertönt und sie für immer an diesen kleinen Moment zurückdenken lässt.

Im weiteren Verlauf des Gesprächs erzählt mein Stief Opa mir immer mehr und mehr und ich fange an zu merken, dass sich manche Orte und die damit verbundenen Erinnerungen mit meinen ein wenig ähneln. Die einprägsamste Geschichte von ihm habe ich bereits vor 2 Jahren schon gehört, aber mir fällt erst jetzt auf, wie doll sich unsere Erlebnisse manchmal gleichen können. Vor 2 Jahren stand ich kurz vor meiner ersten 7-wöchigen Reise alleine nach London. Ich war 18 und sah meinen Stief Opa ein letztes Mal vor meinem Flug und er gab mir eine Menge Weisheiten und Tipps mit auf den Weg. Er ist selbst mit 19 und mit ein paar Freunden per Anhalter nach London gereist. Damals hatten sie sich entschieden, eine nicht ganz so unbekannte Bar zu besuchen für einen Auftritt einer Band namens ,Derek & The Dominos‘. Als sie anstanden wurden nach einer Weile kleine
Button verteilt auf denen stand: ,Derek is Eric‘. Und ab da war klar, dass mein Stief Opa einer der wenigen Leute den Abend sein wird, der Eric Clapton live in einer kleinen Bar in London sehen wird. Und das Highlight: Es war einer der wenigen Auftritte mit Dave Mason auf der Bühne. So etwas will ich auch unbedingt mal erleben, dachte ich mir damals. Und keine 4 Wochen später stehe ich seit bereits 4 Stunden vor der Bar ,The Underworld‘ in Camden an, als ich ein Eintritts Bändchen erhalte für einen spontanen Gig meiner absoluten Lieblingsband: MÅNESKIN. Den Abend höre ich gemeinsam mit nur 300 anderen Leuten die neue Single ,The Loneliest‘ live vor ihrem eigentlichen Erscheinungsdatum.
Zwei einzigartige Erinnerungen mit 60 Jahren Abstand, am selben Ort, verbunden bis heute durch die Musik.

Mir wird bewusst, dass hinter den ganzen Erinnerungen noch so viel mehr steckt als Melancholie. Dahinter steckt vor allem ein von Geschichten gefülltes und in vollen Zügen genutztes Leben, auf welches man voller Stolz und Freude zurückschauen kann. Ich merke, dass mein Stief Opa mir noch so viel mehr erzählen könnte, jedoch wirkt er dabei einfach nur fröhlich und gar nicht bedrückt. Mir wird deutlich, dass ich die vergangene Zeit und das Älterwerden überhaupt nicht als etwas Schlechtes sehen muss, sondern vielmehr als Potenzial sehen kann, später neue Geschichten erzählen und weitere Songs entdecken zu können. Denn auch mein anderer Großvater gab mir zu meinem 16. Geburtstag eine Festplatte voller Songs, die er über Jahrzehnte angesammelt hatte, in der Hoffnung mir seine Erinnerungen durch die Lieder weitergeben zu können. Und gibt es etwas Schöneres als
geteilte besondere Momente?

Clara Schwabe

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