Der internationale Leistungssport ist ein hart umkämpftes Pflaster. Die vereisten Spielflächen des Para-Eishockeys bilden da keine Ausnahme. Im Wettstreit um den Puck entscheiden Geschicklichkeit, Schnelligkeit und voller Körpereinsatz im Schlitten über Sieg oder Niederlage. Para-Eishockeyspieler Ingo Kuhli-Lauenstein berichtet über seine turbulenten Erlebnisse auf dem Weg zu den Paralympics 2018.
von Swaantje Lauenstein
April 2017, Weltmeisterschaft im Para-Eishockey. Im Gangneung Hockey Center in Südkorea glüht die Eisfläche. Aus den Lautsprechern dröhnt Musik, die Zuschauer auf den Rängen schwenken fröhlich ihre Fähnchen. Doch dafür haben die Spieler auf dem Eis jetzt kein Auge. Hier zählt Konzentration, jede Sekunde. Es ist ein rasantes Duell, die Schlitten der Spieler wirbeln Wolken aus Eisstaub auf. Man schenkt sich keinen Zentimeter. Die deutsche Nationalmannschaft ist fest entschlossen, dem technisch überlegenen Turnierfavoriten Kanada die Stirn zu bieten.
Nur ein winziger Moment der Unachtsamkeit in der kanadischen Verteidigung – und da ist sie, die Chance, den Puck aus dem eigenen Drittel heraus in Richtung kanadisches Tor zu bringen. Jetzt aber schnell. Sprintduell. Dabei nicht die Kontrolle über den Puck verlieren. Deutschlands Nr. 33 visiert schon das Tor an, gibt alles – und wird vom kanadischen Verfolger krachend gegen die Bande gerammt.
Der Schuss geht ins Leere, doch für den Kanadier ist schon dieser kurze Exkurs zu viel des Guten. Wild gestikulierend brüllt er einen saftigen Fluch in die eigenen Reihen. „Der hat sich ganz fürchterlich darüber aufgeregt, dass ich überhaupt soweit kommen konnte“, lacht Ingo Kuhli-Lauenstein rückblickend. Es ist ein breites, schelmisches Lachen, das direkt verrät: Hier redet jemand mit absoluter Leidenschaft für seinen Sport. Ingo spielt seit 2014 mit der Nr. 33 auf dem Rücken für die deutsche Para-Eishockeynationalmannschaft. Der 25-Jährige Student ist einseitig unterschenkelamputiert. Vor fünf Jahren ist er zufällig auf den Sport aufmerksam geworden und verbringt seitdem einen Großteil seiner Freizeit im Schlitten.
Eishockey im Sitzen – von wegen Entspannung!
Denn bei der paralympischen Form des Eishockeys bewegen sich die Spieler in einem speziell angefertigten Schlitten fort, auf dem sie sitzend das Gleichgewicht halten müssen. Die Sportart wurde entwickelt für Menschen mit Bewegungseinschränkungen in den unteren Extremitäten, die Fortbewegung funktioniert nur über Arme und Rumpfmuskulatur. „Mit den beiden Schlägern, an deren Enden Spikes befestigt sind, stößt man sich nach vorne ab, nimmt Tempo auf und führt gleichzeitig den Puck“, erklärt Ingo. Klingt irgendwie kompliziert? Ist es auch.
Soweit die Theorie. Einen bildlicheren Eindruck von den Bewegungsabläufen erhaltet ihr im Video von Ingos Lieblings-WM-Spiel gegen Kanada:
Dynamik, Geschicklichkeit und voller Körpereinsatz
Para-Eishockey ist ein extrem temporeiches und abwechslungsreiches Spiel. Ein weiterer Reiz liegt für Ingo in der Athletik und Geschicklichkeit, die die Sportart ihm abverlangt: Neben der körperlichen Fitness will nämlich vor allem das Sportgerät, der Schlitten, beherrscht werden. Und das ist nicht so einfach wie es bei den Profis aussieht, weil völlig andere Muskelgruppen beansprucht werden als im Alltag.
„Man wird bei uns nicht in Watte gepackt. Also im Vergleich mit anderen Sportarten kann‘s wehtun.“
Voller Körpereinsatz gehört bei Zusammenstößen und Zweikämpfen um den Puck sowieso dazu. Da bleiben trotz Schutzkleidung auch blaue Flecken und Narben von den Spikes nicht aus, wie Ingos Oberarme eindrucksvoll beweisen.
Aller Anfang ist schwer
Zimperlich sollte man in diesem Sport wahrlich nicht sein – schon die Anfangszeit erfordert eine Menge Biss. Die ersten Male im Schlitten seien schon gewöhnungsbedürftig gewesen, erinnert Ingo sich an seine ersten Fahrversuche in der Eishalle Wiehl. Schmunzelnd fügt er hinzu: „Im Vergleich mit den Trainingspartnern, die natürlich einen riesigen Vorsprung haben, sieht man am Anfang gar nicht gut aus. Das ist dann schon manches Mal frustrierend, wenn man das mit der Koordination alles nicht hinkriegt.“ Gute zwei Jahre habe es gedauert, bis er mit Schlitten und Puck wirklich wendig und schnell geworden sei. Darüber hinaus muss man sich auch das taktische Verständnis für mögliche Spielzüge und einen Überblick über die Räume auf dem Eis erarbeiten. „Wenn man nie vorher was mit Mannschaftssport zu tun gehabt hat, ist das unglaublich schwierig.“
Nur der Wille zählt – Aus der Eishalle Wiehl aufs internationale Eis

Woher er diese Motivation nimmt? „Das war einfach mein Wettkampfwille. Ich fand es ziemlich cool, was die anderen drauf hatten. Und dann dachte ich mir, entweder ich muss das genauso gut oder besser können“, lacht Ingo. Dass er den Sport auf einer Leistungsebene betreiben will, war schnell klar. Entsprechend steil stieg seine Lernkurve im ersten Jahr. Das blieb auch Bundestrainer Andreas Pokorny nicht verborgen und so hat Ingo mit der Nationalmannschaft inzwischen bereits an zahlreichen europäischen Freundschaftsspielen, einer Europameisterschaft und an zwei Weltmeisterschaften teilgenommen.
Der Preis? Enormer Zeitaufwand. An drei Wochentagen Bundesliga-Training, an den Wochenenden Ligaspiele oder Trainingslager mit der Nationalmannschaft. „Im Winter vor den großen Turnieren hat man vier, fünf Monate lang kein Wochenende frei“, resümiert Ingo. Das nimmt er aber für seinen sportlichen Traum, die Teilnahme an den Paralympischen Winterspielen 2018, gerne in Kauf. Nachdem das deutsche Team die Direktqualifikation bei der WM im April verpasst hat, wartet im Oktober eine zweite Chance. In einem Qualifikationsturnier werden dann sechs Mannschaften um die letzten drei Paralympics-Teilnahmeplätze spielen. Hart umkämpfte drei Plätze, denn bei den Paralympics dabei zu sein gilt als Heiliger Gral jeder Sportlerkarriere.
Internationale Sportgemeinschaft – Feind oder Freund?
Trotz der Konkurrenzsituation beschreibt Ingo den Umgang innerhalb der internationalen Sportgemeinschaft als respektvoll und freundschaftlich, was er vor allem auf eines zurückführt: „Uns alle verbindet eine bejahende Lebenseinstellung.“ Europaweit sei die Sportszene außerdem so klein, dass man sich immer wieder treffe und so über die Jahre echte Freundschaften entstehen würden.
An diese Harmonie möchte man als Zuschauer angesichts der oft stürmischen, lauten und teils aggressiven Begegnungen der Spieler auf dem Eis kaum glauben. „Tatsächlich ist der Umgangston bei uns des Öfteren schon sehr rau“, räumt Ingo ein und fügt mit einem Grinsen hinzu: „Aber abseits vom Eis gehen wir im Großen und Ganzen ganz harmonisch miteinander um.“ Einigen wir uns doch einfach auf Folgendes: Mannschaftssportler brauchen unmissverständliche Ansagen.
Ingo kommt derweil zu diesem Schluss: „Das ist wie im echten Leben: Es gibt sympathische Menschen und nicht so sympathische.“ Und zu letzteren gehören dann auch solche Kuriositäten wie Mannschaften, die sich weigern mit anderen im gleichen Aufzug zu fahren, oder Spieler, die nach einer Niederlage in Kleinkindesmanier zurückverfallen und während der Hymne wild ihre Ausrüstung um sich werfen.
Para-Eishockey als weltweiter Nischensport?
An unterhaltsamen Anekdoten und Attraktivität mangelt es der Sportart also nicht – dennoch kämpfen gerade die europäischen Vereine gegen das gleiche Problem: fehlende Popularität und Förderung. Bewundernd schielt man in die USA, nach Kanada und Russland. Dorthin, wo der Behindertensport von der allgemeinen Popularität des Eishockeys profitiert, wo die Hockeyverbände eine umfangreiche Förderung ermöglichen und wo Para-Eishockey live auf NBC oder CBS Sports übertragen wird.
Daraus ergeben sich deutlich optimierte Trainingsbedingungen für die Sportler. „Die Jungs machen das hauptberuflich. Nebengeräusche wie ein Job oder ein Studium werden von denen weitestgehend abgeschirmt, deren Leben ist vom Eishockey bestimmt. Das merkt man sportlich dann natürlich auch in Ergebnissen, bei denen man froh ist, wenn sie nicht zweistellig sind“, lacht Ingo, für den die ungleiche Situation kein Grund zur Verbitterung ist.
Im Duell mit den Weltbesten
Ganz im Gegenteil betrachtet er die Spiele gegen die internationalen Spitzen-Mannschaften als Inspiration. „Für mich sind das die besten Spiele, weil man durch die Außenseiterrolle völlig ohne Erwartungsdruck an die Sache rangeht und eigentlich nur glänzen kann“, erklärt Ingo. Für ihn am wichtigsten ist, in der ausweglosen Lage durch seinen Kampfgeist auf sich aufmerksam zu machen: „Das macht einfach Spaß, wenn man da gegenhält und die Ellenbogen und Schultern ausfährt, wo es nur geht.“ Körperlich mit den Weltklassespielern mithalten zu können, sie in ihrem Spielfluss zu stören, das spornt an, meint Ingo und lacht weiter: „Das ist schon unterhaltsam, wenn man sie soweit provozieren kann, dass sie ein Foul begehen und auf der Strafbank landen und man dann lachend vorbeifährt!“ Nicht zuletzt lernt man natürlich von den Besten – zum einen sportliche Bewegungsabläufe, zum anderen wertvolles Wissen über die strukturelle Organisation der Sportszene.
Dennoch gibt es auch Momente, in denen es schwerfällt, die Leistung der sportlich überlegenen Gegner anzuerkennen. Wenn ein Torschütze den deutschen Gegnern auf dem Eis „You suck, all of you suck“ entgegenwirft, ist das einfach nur respektlos und macht wütend.
„Da hat nicht viel gefehlt und dann wär‘s amüsant geworden. Aber das ist ja irgendwie auch schlechtes Verlieren, wenn man 6:0 zurückliegt und dann eine Prügelei anfängt. Aber es gibt auch schlechte Gewinner und die mag ich halt genauso wenig.“
Was letztlich zählt
Trotz gelegentlicher Starallüren und persönlicher Differenzen – Sport verbindet Menschen, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen und politischen Hintergrund. Für Ingo ist klar: „Unser Sport bringt Menschen zusammen, die gemeinsam Spaß haben. Und ich denke, das ist es auch, wofür Sport letzten Endes da sein sollte: dass man selber schöne Erlebnisse davon hat.“ Und auch wenn er noch so kurz war, sein Alleingang in das gut behütete kanadische Drittel zählt für Ingo auf jeden Fall zu seinen ganz persönlichen Triumphmomenten der WM.