Von Joshua Buchen
Ein letzter Blick in den Spiegel. Wieder um ein Jahr gealtert, erkannte Suzanna neue Falten in ihrem Gesicht. Falten, die niemand sonst sehen würde. Ihr stark geschminktes Gesicht sah aus wie das einer Zwanzigjährigen. Sie könnte als Frau ihres ältesten Sohnes durchgehen, wäre da nicht die Krone, die sie als einzig wahre Herrscherin des Landes identifizierte. Diese Verkörperung ihrer Macht lag noch in den Händen ihrer Beraterin Skarina, die gerade erst die letzten Pinselstriche in ihrem Gesicht vorgenommen hatte. „Zeigen Sie allen, wer die Macht hat! Präsentieren Sie ihre Stärke! Die Menschen sollen nicht glauben, dass der Thron kippen könnte, nur weil Sie…“. Sie musste gar nicht ausreden. Suzanna wusste, dass es schlecht um ihre Regentschaft stand. Im letzten Jahr wurde ihr Mann stark verwundet und es sah danach aus, dass er ihr nie eine Tochter schenken würde. Drei Söhne hatten sie bekommen, doch nur eine Tochter konnte die Thronfolge antreten und die Macht von Suzannas Familie weiterführen. Sollte Suzanna vor der Geburt einer Tochter sterben, würde ein Krieg beginnen, in dem die mächtigsten Familien des Landes um den Thron kämpfen würden. Und auch die Höghollern, Hochverräter der Krone und Verächter der Monarchie, würden kämpfen, um die unaufhaltsame Revolution voranzutreiben. Skarina setzte die Krone auf den Kopf der Königin, doch Suzanna konnte die dunklen Gedanken nicht verdrängen. Sie würde diesen Krieg nicht mehr verhindern können.

Dicht hing der Nebel über dem Feld. Die dunkelgrauen Umrisse des riesigen und nahgelegenen Schlosses, die man durch die weiße Wand erkennen konnte, ließen die eigentlich üppige Umgebung nur erahnen. Skarina wurde am frühen Morgen aus dem Bett geholt. Von einer „dringlichen Angelegenheit“ hatte ihr Bediensteter gesprochen. Vor den Toren traf sie Mankus, den Chef der königlichen Polizei.
„Was geht hier vor sich?“, fragte sie noch benebelt vom gestrigen Alkoholrausch.
„Es tut mir leid Sie zu so unmenschlicher Zeit rufen zu müssen. Aber das sollten Sie sich ansehen.“
Mankus führte sie eine noch längere Strecke vom gefestigten Weg, der das Feld spaltete, fort. Sie versuchte immer tiefer in ihren wärmenden Mantel zu sinken, um den niedrigen Temperaturen Stand zu halten. Den Matsch unter ihren Füßen beachtete sie nicht. Sie würde später wohl noch genug Zeit haben, um sich über ihre verdreckten Schuhe zu beschweren. Sie hoffte einfach nur, dass die Angelegenheit wirklich dringlich sei.
Mankus blieb stehen. Der Nebel war so dicht, dass sie kaum etwas sehen konnten.
„Erschrecken Sie bitte nicht. Wir haben den Nebel absichtlich gelegt, um neugierige Augen von diesem Ort fernzuhalten. Sind sie bereit?“, ohne die Antwort abzuwarten lichtete Mankus mit einer einzigen Handbewegung den Nebel um sie herum. Fasziniert schaute Skarina den sich zurückziehenden Nebelschwaden hinterher. Nur selten wurden Menschen Zeugen von der Macht der Gebührenden, Herrscher über die Witterung, die der Krone unterstellt waren. Dann senkte sich ihr Blick und Schrecken fuhr ihr in die Knochen.
Suzanna stand vor der großen Tür zum Thronsaal. Sie wartete auf ihren jährlichen großen Auftritt. Sie würde sich den Vertretern ihres Volks präsentieren, ihren Anliegen zuhören und feiern. Sie hörte die ergebenen Gebührenden ihren Spruch aufsagen: „Angemessen sollt Ihr sie begrüßen. Die Königin, die Schönste. Ihr folgen wir bis zu ihrem Tod. Und dann folgen wir der Tochter voller Edelmut.“ Vor einigen Jahren erklangen die Stimmen noch voller Elan und Hoffnung, doch nun schienen sie vollkommen erschöpft, als würden die Gebührenden selbst nicht mehr an diese Zukunft glauben.
Die Türe öffnete sich. Suzanna musste den Weg zu ihrem Thron gehen. Links von ihr standen die Höghollern. Ihre wachsende Macht im Land war unbestritten. Um sie unter Kontrolle zu behalten, sah Suzanna es als ihre Pflicht, sie zu den Feierlichkeiten im Schloss einzuladen. Wie immer verweigerten sie eine Verbeugung und sahen die alternde Königin unter höhnischem Grinsen an. Die Gebührenden standen zu ihrer Rechten, verbeugten sich tief, sahen aber erschöpft aus. Neben dem prächtigen Thron aus Glas waren zwei prachtvolle Stühle aufgestellt. Auf ihnen saßen zwei Männer der Cavils. Bjon Cavil hatte die Kämpfe zur ersten Schwangerschaft von Suzanna gewonnen. Sein Sohn Hanne Cavil dürfte ihre erstgeborene Tochter zur Frau nehmen. Mittlerweile war Hanne zu einem hässlichen, dicklichen Mann herangewachsen, der noch immer auf eine Frau wartete. Sein gieriges Lächeln erinnerte Suzanna an einen selten dämlichen Hasen. Hinter ihrem Thron standen noch sechs weitere Vertreterinnen und Vertreter der wichtigsten Familien im Lande. Sie alle würden heute noch vorstellig werden und ihre Sorgen zur Zukunft des Landes mitteilen. Zwei Themen, so befürchtete Suzanna, würden die Feierlichkeiten überschatten: Die Gesundheit ihres nicht anwesenden Mannes und ihre immer noch ungeborene Tochter. Als sie sich setzte, beugte sich Bjon zu ihr: „Ein weiteres Jahr vergangen und noch immer sehe ich mich ohne Schwiegertochter.“ Er schnalzte missbilligend mit der Zunge, als sich die Türen ein weiteres Mal öffneten, um Suzannas Söhne einzulassen. Stolz beobachtete Suzanne ihre ältesten und prächtigen Söhne Maner und Thorem. Sorgen machte sie sich um Xant. Ihr jüngster Sohn war dürr und blass, sein Gesichtsausdruck bereitete Suzanna Unbehagen.
Suzannas Leiche lag auf dem tristen Feld. Morgentautropfen hatten die Schminke verlaufen lassen und ließen die tiefen Falten der Königin erkennen. Neben der toten Königin lag ein zerbrochenes Glas.
„Einer der patrouillierenden Gebührenden hat sie heute Morgen tot aufgefunden. Jemand muss am Ende der Feierlichkeiten Gift in ihren Wein gemischt haben. Im Wahn scheint sie aus dem Schloss gelaufen zu sein, um in dieser tristen Gegend den Tod zu finden“, berichtete Mankus emotionslos, als wüsste er nicht, welche schrecklichen Auswirkungen Suzannas Tod haben würde.
„Der Tod einer tochterlosen Königin bedeutet Krieg!“, stellte Skarina klar, verärgert über die gleichgültige Art des Gebührenden. „Ich kann mir nur vorstellen, dass die Höghollern hoffen von dieser Grausamkeit zu profitieren. Ihr wachsender Einfluss im Land ist nicht zu unterschätzen.“
„Das Land wird auch nach dem Krieg wieder regiert werden. Ich bin dieser Königin nur noch eine Sache schuldig: Ihren Mörder zu finden und unschädlich zu machen. Ich habe mir bereits gedacht, dass Sie die Höghollern verdächtigen und wir widmen uns bereits dieser Anklage. Aber wir verfolgen noch eine andere Spur“, sagte Mankus und zog einen Brief aus seiner Tasche. „Die Königin hat einen letzten Willen hinterlassen und dort – es entbehrt jeder Logik und Vernunft – eine Nachfolgerin ernannt.“
„Wieso sollte Sie das getan haben? Niemals könnte jemand außer ihre eigene Tochter einfach den Thron beanspruchen. Es wird Krieg geben, egal wen Suzanna auserwählt hat“, Skarinas Verwirrung erfüllte ihre Stimme.
„Sie sollen ihre Nachfolgerin sein. Auch wenn Sie es nie werden könnten. Machtbesessenheit ist Motiv für einen Mord. Ich muss Sie verhaften, bis Ihre oder die Schuld einer anderen Person bewiesen ist.“

Der offizielle Teil war vorbei. Erschöpft vergrub Suzanna ihr Gesicht in ihren Händen. „Zeigen Sie keine Schwäche“, hallten Skarinas Worte in ihrem Kopf nach und schnell richtete sie sich würdevoll auf. Nun würden die Feierlichkeiten beginnen. Viele Höghollern verließen den Saal. Zu ihrer Befriedigung hatten sie genug von den Sorgen der mächtigen Familien gehört, sie mussten den elitären Feierlichkeiten nicht mehr beiwohnen.
Suzannas Söhne standen zusammen und stießen mit einem Glas Champagner an. Als Suzanna zu ihnen kam, stoppten sie ihre Gespräche.
„Mutter, wie geht es dir? Kannst du die harte Kritik verkraften?“, fragte Maner, ihr ältester, besorgt.
„Lass es dir von einer alten Frau sagen, man gewöhnt sich an einiges“, antwortete Suzanna mit einem gespielten Lächeln.
„Mach dir nichts draus“, sagte Thorem. „Du wirst auch noch eine Tochter gebären. Da bin ich mir sicher“.
„Selbst wenn es Vater noch besser ginge, ein Kind in Mutters Alter zu gebären, käme einem Wunder gleich“, Xant war der ehrlichste ihrer Söhne.
„Xant!“, ermahnte ihn Suzanna streng. „Du redest über eine Königin und in der Öffentlichkeit. Hüte deine Zunge!“ Sie ging davon, nichtsahnend von dem Vorhaben ihres Sohnes, der eine kleine Flasche in der Hosentasche versteckt hielt.
In ihrer Zelle schwor Skarina Rache. Die Gebührenden würden die Person finden, die für den Tod ihrer Königin verantwortlich war. Dann würde sie ihre Zelle verlassen können und im Krieg um ihr Recht auf den Thron kämpfen. So wie es Königin Suzanna gewollt hat.
In den Wochen nach dem Mord wurden noch viele weitere Menschen des Mordes beschuldigt. Auf der Feier verblieben noch mehrere Höghollern, denen Mankus einen Giftanschlag auf die Königin zugetraut hätte. Auch Bjon Cavil, der keinen Hehl aus seiner Verachtung gegenüber der Königin machte, und sein Sohn wurden verhaftet. Sie beteuerten täglich, dass sie mit diesem Verbrechen nichts zu tun hatten. So füllte sich der Kerker immer weiter mit zu Unrecht beschuldigten Menschen. Während sich Familien und Gruppierungen im Land für den kommenden Krieg rüsteten, schien niemand den wahren Täter zu verdächtigen.
Xant folgte seiner im Wahn rennenden Mutter aus dem Schloss. Sie hatte ihren Wein, den sie nach dem Abschied der letzten Gäste bestellte, noch nicht fertig ausgetrunken, doch das Gift darin wirkte bereits. Es wirkte schneller und stärker als Xant gedacht hätte. Die Königin erreichte das große Feld, das das Schloss umgab. Es war stockdunkel und alle schienen bereits zu schlafen. Suzanna stolperte über einen Haufen Erde auf dem Feld und fiel hin.
Sie drehte sich auf den Rücken, schaffte es aber nicht mehr aufzustehen. Xant schaute von oben auf seine sterbende Mutter herab.
„Xant“, sie erkannte ihren Sohn. „Hilf mir!“
„Dir kann man nicht mehr helfen. Mach es gut Mutter“, sagte er.
„Aber… Wenn ich sterbe…“, über ihre Wangen liefen Tränen.
Xant ging in die Knie und legte einen Finger auf ihren Mund.
„Psssssttt“, sagte er. „Du kannst nichts mehr tun. Du kannst einen Krieg nicht mehr verhindern – Du hättest es auch lebend nicht schaffen können.“
„Die Höghhollern“, konnte Suzanna noch aussprechen.
„Ja, ich weiß. Aber ich kann dir sagen, sie zahlen gut. Du würdest dich wundern, wie reich ich durch deinen Tod werde“, nun lächelte Xant.
Suzannas Augen weiteten sich und schlossen sich dann für immer.
„Gute Nacht Mama, lang leben die Höghollern und ihr neuer Meister Xant.“
Nach dem Tod der Königin würden Jahre des Krieges folgen. Unzählige würden ihr Leben lassen. Familien würden auseinandergerissen und neue Königinnen und Könige würden den Thron besteigen – nur um zu sterben und neue Kämpfe anzufachen. Über diese Kriege würden Historiker berichten und Einzelheiten würden aus den Geschichtsbüchern verschwinden – vergessen im Strom der stetig ablaufenden Zeit. Doch dies sind andere Geschichten, die mit dem Mord an einer Königin ihren Anfang nahmen…
