Aktuelles Kultur Literatur

„Soll hier dem Kruge nicht sein Recht geschehen?” Der zerbrochne Krug als moderne Gesellschaftskritik

Als Marthe Rull wegen ihres zerbrochenen Kruges, ein ihr überaus wertvolles Familienerbstück, vor Gericht zieht, scheint ihr die Sachlage klar: Ruprecht, der Verlobte ihrer Tochter Eve, habe den Krug zertrümmert, als er sich nachts in ihr Zimmer schlich. Dieser schwört jedoch auf seine Unschuld und bezichtigt Eve der Untreue. In einem rasanten Gerichtsprozess entfalten sich schnell die Abgründe des Justizsystems zwischen Amtsmissbrauch, Sündenfall und einem Richter, dem die Wahrheit zu unbequem ist.

Von Jasmin Kaub

Lena Geyer (Eve) steht abseits auf der rechten Seite der Bühne und erzählt was ihr passiert ist. Das einzige Licht im Saal ist auf sie gerichtet. Als die Wahrheit endlich ans Licht kommt, lauscht ihr das Publikum mindestens ebenso gebannt wie die übrigen Figuren des Stücks. Eve erzählt von Betrug, Machtmissbrauch und Nötigung. Themen, die heute noch so aktuell sind wie zur Veröffentlichung des Stückes 1808. 

Jens Groß inszeniert Kleists Lustspiel im Schauspielhaus Bonn als rasche Komödie, die trotz des ernsten Themas ihren Humor nicht verliert. Der nahezu unveränderte Text steht in Kontrast zu den teils sehr modern gestalteten Kostümen der Figuren, in denen sich kaum Kohärenz erkennen lässt. 

Die Premiere am 19. November ist gut besucht. Dass die anschließende Premierenfeier coronabedingt ausfallen muss, trifft die Veranstalter mindestens ebenso stark wie das Publikum. 

Das Publikum als stiller Richter

Credits: Thilo Beu v. l. n. r. Klaus Zmorek (ADAM); Lena Geyer (EVE); Wolfgang Rüter (LICHT)
Credits: Thilo Beu
v. l. n. r. Klaus Zmorek (ADAM); Lena Geyer (EVE); Wolfgang Rüter (LICHT)

Schon als das Publikum Klaus Zmorek (Richter Adam) zum ersten Mal sieht, wirkt er, übersät mit verräterischen Wunden, zwielichtig und gerät schnell unter Verdacht. Steht er zu Beginn der Inszenierung noch in der Mitte der Bühne und des Geschehens, so zieht es ihn im Verlauf des Stücks immer weiter zum Rand, bis er der Bühne schließlich vollkommen entflieht. 

Das Richterpult steht dem Publikum direkt gegenüber, die Klägerinnen und Angeklagten sitzen zu ihren jeweiligen Seiten, richten ihre Erklärungen und Monologe aber auf eine Weise in den Publikumsraum, als wollten sie von dieser, nahezu einzig unparteiischen, Seite angehört werden. So übernimmt das Theaterpublikum gleichzeitig die Rolle des stillen Gerichtspublikums. Das eigentliche Thema der Verhandlung, der zerbrochene Krug, gerät schnell in Vergessenheit. Thematisiert und gerichtet werden die Figuren und ihr Verhalten, ihre Reaktionen und Erkenntnisprozesse.

„Eine Frau?!“

Credits: Thilo Beu v. l. n. r. Wolfgang Rüter (LICHT), Markus J. Bachmann (RUPRECHT), Klaus Zmorek (ADAM), Merle Wasmuth (WALTER)
Credits: Thilo Beu
v. l. n. r. Wolfgang Rüter (LICHT), Markus J. Bachmann (RUPRECHT), Klaus Zmorek (ADAM), Merle Wasmuth (WALTER)

Der größte Eingriff in Kleists Text stellt die Rolle der Gerichtsrätin Walter (gespielt von Merle Wasmuth) dar, ein Amt, das bei Kleist ursprünglich von einem Mann bekleidet ist. Richter Adam erkennt in ihr zunächst keine Gefahr. Zu Beginn sitzt Walter als Stimme der Vernunft und Abgeordnete des Rechts am Rande der Bühne, greift aber, verwundert über Richter Adams immense Fehler, immer wieder in die Führung des Verfahrens ein.

Je offensichtlicher die Intrige wird, desto weiter rückt sie ins Zentrum, bis sie die Gerichtsverhandlung schließlich übernimmt. Dass die Rolle, der stückimmanent das größte Prestige zukommt, mit einer Frau besetzt wurde, verdeutlicht einerseits und verschiebt andererseits die dargestellten Machtkonstellationen. Richter Adam nimmt sie zwar zunächst nicht ernst, zweifelt aber, in all seinen Vertuschungsversuchen, nie ihre Macht und ihren Einfluss an.

Damit sind die weiblichen Rollen nicht mehr bloß Figuren, denen etwas zustößt, sondern auch solche, die für Gerechtigkeit sorgen und sich immer wieder durchsetzen können. Diese äußerst gelungene Veränderung transformiert altertümliche Vorstellungen von Weiblichkeit (Kleist stellt lediglich die alte Witwe und die unschuldige Jungfrau, beide unfähig des eigenständigen Handelns, dar) und bringt das Stück in unsere Gegenwart, ohne sprachliche oder thematische Anpassungen vornehmen zu müssen. 

Aktuell und kurzweilig

Die scharfen Bemerkungen, humoristischen Betonungen und die steigende Spannung ziehen das Publikum in ihren Bann. Die Inszenierung ist kurzweilig und betont den Aspekt des Lustspiels, des Humoristischen, ohne das Schicksal der Eve als weniger ernst darzustellen. Dass die verschiedenen Parteien am Ende in unterschiedlichen Richtungen die Bühne verlassen, betont das Unabgeschlossene der Handlung: Marthe konnte für ihren zerbrochenen Krug nicht entschädigt werden und auch Eve erfährt keine Gerechtigkeit. Die brillante Leistung der Schauspieler*innen ist es, was die Empathie des Publikums hervorruft und es mitfiebern lässt, egal ob der Ausgang des Lustspiels bereits bekannt ist oder nicht. Insgesamt eine gelungene Inszenierung, die einen Besuch wert ist.

 


Der zerbrochne Krug

von Heinrich von Kleist

Im Schauspielhaus Bonn

Regie: Jens Groß

Bühne und Kostüme: Tom Musch

Licht: Boris Kahnert 

Dramaturgie: Male Günther

Mit: Klaus Zmorek, Wolfgang Rüter, Merle Wasmuth, Ursula Grossenbacher, Lena Geyer, Wilhelm Eilers, Markus J. Bachmann

 

Premiere am 19. Nov. 2021

Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

Nächste Vorstellung: 28. Nov. 2021

 

Beitragsbild: Thilo Beu, v. l. n. r. Lena Geyer (EVE); Merle Wasmuth (WALTER); Wolfgang Rüter (LICHT); Ursula Grossenbacher (MARTHE); Klaus Zmorek (ADAM); Wilhelm Eilers (VEIT); Markus J. Bachmann (RUPRECHT)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert