Aktuelles Alltag Gesellschaftsleben Kultur

Sind Pflegekinder Menschen?

Ich war 14 Monate alt, als ich meine Familie kennenlernte. Meine Eltern und meine Geschwister. Wie das sein kann? Ich lebe in einer Pflegefamilie.

von Nadja

Am 20. August 2000 wurde ich in einem Krankenhaus in eine zuvor noch dreiköpfige Familie geboren. Als ich 14 Monate alt war, gab meine leibliche Mutter mich und mein Geschwisterkind in ein Kinderheim. Die Gründe dafür kannte ich damals natürlich noch nicht und hätte sie sowieso nicht verstanden. Mein Aufenthalt dauerte auch gar nicht lange an, denn ich wurde nach kurzer Zeit in eine Pflegefamilie vermittelt. Mein Geschwisterkind wurde kurz nach mir zu einer anderen Pflegefamilie vermittelt. Ich habe keine Erinnerungen daran. Natürlich nicht, denn schließlich war ich gerade mal ein Jahr alt.

Ich wusste schon immer, dass ich nicht nur eine Mutter, sondern zwei hatte, nicht nur einen Vater, sondern zwei. Es machte für mich keinen Unterschied, ob man nun 4 Elternteile hatte, oder zwei, oder drei, ja manche auch nur eines. Was für mich zählte war, dass man eine Familie hatte. Und so ist es auch noch heute.

Umso älter ich wurde, umso mehr verstand ich. Anfangs erzählten mir meine Eltern, dass meine leibliche Mutter mit uns Kindern ihren Ehemann verließ und diese es einfach nicht mehr schaffte, sich um mich zu kümmern. Dass sie uns weggab und in ein anderes Land zog. Das machte für mich Sinn.
Als ich 10 Jahre alt war, erfuhr ich, dass mein leiblicher Vater an Organversagen gestorben war. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte, wie ich damit umgehen sollte, was mir diese Information bringen sollte. Ich kannte und kenne diesen Menschen nicht. Natürlich tat und tut es mir leid, dass er gestorben ist. Doch es war nicht so, dass etwas von meiner Welt wegbrach und ich zutiefst erschüttert war und trauerte. All das fand nicht statt. Er war und ist ein Fremder. Ich fragte nicht weiter. Ich fragte generell nicht allzu viel. Vielleicht aus Angst, dass es mir etwas bedeuten könnte. Dass er oder meine leibliche Mutter mir etwas bedeuten könnte. Vielleicht auch aus Angst, dass es meine Eltern verletzen könnte.

Doch es kam, wie es kommen musste und wie es kommen sollte. Ich wollte mehr wissen. Für meine Eltern stellte das, wie sich herausstellte, nie ein Problem dar. Zusammen mit dem Jugendamt brachten sie mir immer mehr und mehr über die Geschichte bei. Über meine Geschichte.

Mein leiblicher Vater war drogenabhängig und sehr dominant. Er behandelte weder meine Mutter noch uns Kinder gut, woraufhin meine leibliche Mutter ihn mit uns verließ. Meine leibliche Mutter kam mit der Situation nicht klar und litt unter dem was geschehen war. Dazu kam noch, dass meine leibliche Mutter krank war. Sie hatte Magersucht. Und sie bemerkte, dass sie so sehr mit sich selber beschäftigt war, dass sie nicht dazu in der Lage war, zwei Kinder groß zu ziehen. Ich denke, dass sie sich ein besseres Leben für uns wünschte und wusste, dass sie uns dieses nicht geben konnte. Mittlerweile geht es ihr besser, wie ich gehört habe. Ich habe keinen Kontakt zu ihr, sondern schließe das aus den Informationen, die ich vom Jugendamt erhalte. Ich habe ihre E-Mail Adresse und auch ein Foto von ihr. Doch ich habe nicht, oder noch nicht, das Bedürfnis danach, Kontakt herzustellen. Ich weiß, dass sie noch immer in einem anderen Land lebt und dort eine Familie gegründet hat. Das freut mich für sie. Schließlich habe auch ich das Glück, eine neue Familie zu haben.

Und ich denke, es war eine gute Entscheidung. Denn ich habe damit ein wunderbares Leben geschenkt bekommen. Einen Neustart ins Leben. Ich wurde glücklich in meiner Familie. Ich konnte einen Kindergarten besuchen und Freunde finden. Ich wurde ein Jahr zu früh eingeschult und übersprang eine Klasse, ich besuchte ein Gymnasium und machte mein Abitur und jetzt studiere ich an einer Universität.

Doch warum erzähle ich das?

Bestimmt nicht, um anzugeben. Ich möchte zeigen, dass Pflegekinder nicht anders sind, als alle anderen Kinder. Wir sind auch normale Menschen. Ich habe all das erreicht, nicht obwohl ich ein Pflegekind bin, nicht obwohl ich schlechte Dinge erlebt habe. Ein Pflegekind zu sein, sollte so etwas nicht aufwerten. Genauso wenig sollte es jemanden abwerten. Ein Pflegekind zu sein, sollte jemanden nicht definieren. Wenn ich jemandem erzähle, dass ich ein Pflegekind bin, entsteht direkt diese Distanz. Menschen versuchen auf Abstand zu gehen und werden unsicher, weil sie nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen, was sie sagen und fragen dürfen und was nicht. Oder sie sind erstaunt, gar verwundert und man bekommt Dinge zu hören wie “Was, du bist ein Pflegekind? Das hätte ich ja gar nicht gedacht. Also du weißt ja, wie ich das meine.”. Um ganz ehrlich zu sein, ja, ich denke, ich weiß was du meinst. Dass man es mir nicht ansieht und ich ja nicht “so” wirke. Ich sehe nicht verwahrlost, müde und traurig aus. Ich besitze eigene Kleidung und trage nichts Abgenutztes aus der Mülltonne. Ich bin relativ gebildet und weiß mich zu verständigen. Ich kann es ja verstehen, denn wenn man hört, dass jemand ein Pflegekind ist, dann fragt man sich natürlich wie es dazu kam. Auch Kinder, die bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen, können schwere Dinge erlebt haben. Können es schwer im Leben haben. Ich bin immer noch die gleiche Person. Immer noch ein Mensch. Und ich würde mir wünschen, dass diese 14 Monate meines Lebens, an die ich mich nicht einmal erinnern kann, nicht mich als Person und auch nicht mein Leben definieren würden.

Das schließt Gleichheit und Gleichberechtigung für mich mit ein. Wir sind alle gleich. Egal wo wir herkommen, egal wen wir lieben, egal wie wir aufgewachsen sind.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert