2016 April 2016: Humor

Satire darf alles

“Satire darf alles” sagte Kurt Tucholsky, doch das war 1919, vor dem Holocaust, vor dem 11. September 2001 und vor dem 13. November 2015. Sicher gibt es Grenzen, Dinge, über die man nicht lachen sollte. Aber Staatsoberhäupter? Die gehören nicht dazu.

Nadine Vogelsberg

Mit Sicherheit gefällt es niemandem, vor einem breitem Publikum seine Schwächen aufgezeigt zu bekommen – als Person des öffentlichen Interesses muss man jedoch damit rechnen, unabhängig davon, ob man seinen Ruhm einer schönen Stimme oder politischem Geschick verdankt. Solange es sich nicht um Falschmeldungen handelt, ist der Handlungsspielraum, wenn es darum geht, solche satirischen Beiträge zu verbieten, eingeschränkt. Entsprechend reagieren die meisten Politiker indem sie gar nichts tun und schlicht warten, bis die Aufregung sich gelegt hat – was früher oder später immer der Fall ist.

Außer, es handelt sich um Recep Tayyip Erdoğan, Präsidenten der Türkei.

Kritik seitens europäischer Medien hat dieser schon länger einstecken müssen, doch mit seiner Reaktion auf ein Video der Satire-Sendung Extra3 sorgte er für großes Unverständnis – und das nicht nur bei Machern und Zuschauern der Sendung, sondern auch bei Politikern wie beispielsweise Martin Schulz, dem Präsident des Europäischen Parlaments. So wollte Erdoğan das Video verbieten lassen und bestellte gar den deutschen Botschafter Martin Erdmann ein, damit dieser sich sowohl für den Satire-Beitrag als auch für den Besuch des Prozesses gegen den Chefredakteur der Zeitung “Cumhuriyet” rechtfertigen solle. Hierzulande stieß diese Reaktion auf Unverständnis und auch Erdmann verwies auf die Meinungs- und Pressefreiheit, sodass es weder möglich noch notwendig sei, die Verbreitung des Videos zu unterbinden. Gemeinhin stehen Politiker über solchen Dingen, sie lächeln über Satire und besuchen gar selbst Sendungen wie die Heute-Show. Nicht aber Erdoğan.

http://twitter.com/extra3/status/714804805798068225/photo/1

 

Tatsächlich ist seine Reaktion nicht nur unter dem Aspekt der Presse- und Meinungsfreiheit verwunderlich. Bevor er Erdmann einbestellte um sich über das Video zu beschweren, war selbiges nur wenig bekannt. Nun aber ist es auf Youtube mehr als 5 Millionen mal angeklickt worden, durch englische und türkische Untertitel wurde es einer breiten Masse zugänglich gemacht und internationale Medien berichten über den Zwischenfall. Selbst in der Tagesschau erschien ein Beitrag darüber – es war in den vergangenen Tagen regelrecht unmöglich, das Video nicht zu sehen – und das einzig, weil Erdoğan selbst die Aufmerksamkeit darauf lenkte. Hätte er geschwiegen, wäre es nach nur wenigen Tagen vermutlich in Vergessenheit geraten, so aber hat er selbst es derart bekannt gemacht, dass Extra3 ihn zum Mitarbeiter des Monats ernannte und unter dem Hashtag #weloveerdogan eine Diskussion anstieß, in welche die Twitter-Gemeinde sogleich einstieg. Mit seiner Reaktion hat Erdoğan somit das Gegenteil dessen erreicht, was ursprünglich sein Ziel war. Erdowie, Erdowo, Erdogan kennt mittlerweile jeder – ist aber auch ein Ohrwurm!

 

 

 

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