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Richtig alt sein – Ein persönlicher Text über Ängste, Hoffnungen und den wichtigsten Wunsch der Welt

Seine Hände zittern, sein Blick wirkt seltsam leer, irgendwie abwesend. Die letzten Haare, die ihm geblieben sind, liegen wie vergessene Mikado-Stäbe umher. Sollte in diesem Moment ein Fremder durch die Tür treten, er hätte Schwierigkeit ihn zu sehen, so sehr verschmilzt seine Erscheinung mit dem alten Eichenholzmobiliar. Transparent, fast durchsichtig und fast vergessen. Und so, wie viele sich an ihn nicht mehr erinnern, so kann auch er selbst nicht mehr greifen, wer er ist. Ich sehe zu, wie die letzten Bruchstücke seiner Identität vor meinem Auge in sich zusammenfallen. Wie bei einer sich auflösenden Brausetablette, beginnen die Konturen des Alten zu flimmern. Gleich wird er ganz verschwunden sein. Traurig und beschämt blicke ich durch den Raum auf den fast leeren Sessel. Beschämt, weil ich trotz allem Mitleid für den Alten nur daran denken kann, ob es auch mir später so ergehen wird: Ob auch ich so alt sein werde.

Meine Angst

Am Ende einer angsteinflößenden Geschichte bedienen sich Erzählerinnen und Erzähler häufig eines recht simplen literarischen Tricks, um die Situation aufzulösen: Der Protagonist wacht aus seinen Alpträumen auf. Gerne würde ich mich in diese Reihe schlecht erzählter Märchen und Gruselgeschichten einreihen, doch meine Ängste kriechen nicht erst in dunkler Nacht aus noch dunkleren Ecken des Zimmers hervor. Nein, sie überfallen mich, unvorhergesehen, springen mir am helllichten Tag entgegen. In ganz alltäglichen Momenten, wenn die Buchstaben auf dem Papier vor mir verschwimmen, wenn ich beim Hinaustreten aus dem Bad vergessen habe, ob meine Zähne schon geputzt sind oder, wenn die kribbelnde Narbe an meinem Handgelenk ein neues Zucken ankündigt.

Ich bin fünfundzwanzig Jahre jung, sportlich, gesund. Ich bin fünfundzwanzig Jahre jung und habe Angst davor, alt zu sein. Nicht etwa alt zu werden oder vor dem Alter, nein. Mein schwindendes Haupthaar und die wachsende Anzahl Geburtstagskerzen können mich nicht einschüchtern. Nein, ich habe Angst davor, alt zu sein. Angst vor dem Zittern der Hände, wie es so oft in meiner Familie vorkommt. Angst, eines Tages die wichtigsten Menschen in meinem Leben nicht mehr zu erkennen oder schlimmer noch, sie zu vergessen. Die Vorstellung, mir heute selbstverständlich erscheinende Dinge des Alltags auch durch größte Anstrengung nicht mehr erkämpfen zu können, lässt mich frösteln.

Der wichtigste Wunsch der Welt

Ich habe Angst davor, alt zu sein, aber ich habe auch Hoffnung. Eine leise Vorstellung davon, wie sie klingen soll, die letzte Strophe meines Lebensliedes. Das genaue Alter spielt in diesem Szenario keine Rolle, unter uns, ich glaube nicht, dass ich besonders alt werde. Was jedoch eine Rolle spielt, ist meine Verfassung, meine Konstitution: Mein Kopf ist klar, vielleicht bin ich ein bisschen schwach auf den Beinen, doch ich kann mich halten. Meine Hände gehorchen mir, stützen mich, halten meinen gealterten Körper. Dann denke ich zurück an das, was war: eine lückenhafte Filmrolle, keine exakte Wissenschaft, aber doch ein Aufflackern von Gefühlen, losen Erinnerungsfetzen und erlebten Momenten. Ein langsames Durchforsten der eigenen Lebensgeschichte, an deren Ende das eine Gefühl stehen soll, welches ich jedem Menschen wünsche, der, egal zu welcher Zeit, auf sein Leben zurückblickt. Der für mich wichtigste Wunsch der Welt über das vielleicht kleinste und zugleich elementarste Verlangen eines jeden Menschen…

Über diesen Wunsch habe ich meinen vielleicht persönlichsten Text geschrieben. Möge er den bösen Gruselgeschichten, die sich in den hintersten Ecken meiner Gedanken verstecken, fröhlich entgegenlächeln und möge mein Wunsch für mich und alle anderen in Erfüllung gehen. Mögen wir alle richtig alt sein!

Audio-Track: Ein Haufen voll Erinnerung in einem alten Pappkarton

 

Ein Haufen voll Erinnerung in einem alten Pappkarton

Türenknarzen, Treppenquietschen,
Birkenstock auf Eichenholz,
Staub der wirbelt, kurzes Niesen,
hier ruht still sein letzter Stolz,

sein letzter Halt aus alten Zeiten,
Erinnerung im Flackerlicht,
raue Hände die auf Pappe gleiten,
der Karton, er öffnet sich.

Als erstes dringt der Lampenschein
auf Legomännchen, Playmobil,
Gebilde gar nicht mal so klein,
die Ecken wirken angeknabbert,
dennoch scheint es recht stabil.

Kinokarten, Sportabzeichen,
alte Fotos, Freundeskreis,
die meisten sind schon länger tot,
ein Glaspokal, der zweite Preis.

Darunter alte Stadionkarten,
91 Aufstiegsjahr,
ein Trikot, ungewaschen Spielerschweiß
mit Unterschrift ein Stutzenpaar.

Bahntickets von all den Reisen,
Rückfahrt von der Fahrradtour,
Sand von irgendeiner Düne,
Bilder von der Nordseekur.

Alte VHS-Kassetten,
der Receiver scheint sogar intakt,
eingelegt, zurückgespult,
auf Play gedrückt, das Band es knackt,

fast vergessene Kinderszenen,
mehr Rauschen als ein klarer Ton,
damals ward ihr noch zusammen,
Vater, Mutter, Tochter, Sohn.

Windeln wechseln, Kinderquengeln,
Mama grinst ins Kamerabild,
ein Bäuerchen, jetzt lacht sie laut,
ach du schöne heile Welt.

Dann die Wohnung, noch nicht fertig,
die Küche wird grad eingeräumt,
du sitzt in einem Pappkarton,
spielst Kapitän, wirkst leicht verträumt,

als wären die Fliesen hohe Wellen,
der große Schrank ein Fels im Meer,
der Kochlöffel dein Steuerruder
und du reißt es wild umher.

Gefahr gebannt, drumrumgeschippert,
doch von Backbord droht erneut der Tod,
ein Piratenschiff erscheint am Horizont,
schießt Kanonenkugeln auf dein Boot.

Du schreist Befehle übers Deck,
machst die eigenen Geschoße klar,
bringst das Schiff in Position,
die Piraten wirken sonderbar,

ihr Schiff scheint doch recht unförmig,
die Kanonenkugeln prallen ab,
das liegt daran dass du und Papa
euch mit Plastikzeug beworfen habt.

Mit Tupperdeckeln und mit Dosen
die eigentlich in den Schrank gehören,
die Meeresgöttin Mama ruft,
wir sollen sie nicht beim Einräumen stören.

Schnitt, noch stärkeres Receiverrauschen,
eine Schaukel weht im Wind,
du spielst mit deiner Schwester fangen,
auf dem Trampolin hüpft noch ein Kind.

Etwas später, Affenbande,
ihr klettert auf dem Spielgerüst,
das andere Kind ist auch dabei,
weil fremd für euch nicht wichtig ist.

Du lächelst matt, du weißt was folgt,
die Narbe ist bis heut nicht weg,
Bandgeklacker, Szenenwechsel,
da liegst du nun im Krankenbett,

dritter Tag Op-Station,
du kannst schon wieder lachen,
zeigst Oma stolz deinen Verband,
„Ach Kind was machst du nur für Sachen?“

Dann verkleidet, Monolog,
die Kamera wird zurechtgerückt,
voll Pathos mit verzerrtem Blick,
übst du fürs Schultheaterstück.

Das Band knackt letztmals, schwarzes Bild,
die Kassette wird herausgespuckt,
zurück zum restlichen Kartoninhalt,
es wird nochmal hineingeguckt.

Ganz unten liegt noch loser Kram,
ein paar alte Zinnsoldaten,
Fußballbildchen, Freundschaftsband,
Bierdeckel verschiedener Marken.

Schillers Räuber, missbraucht als Blätterpresse,
Ahorn, Buche, Restkontur,
damals war sowas noch nichtig,
was will ein Kind mit Hochkultur.

Murmeln, kleines Spielzeugauto,
verschiedene Sammelkarten, noch ein Legostein,
zerbrochene Schallplattenstücke liegen da,
weit verstreut von groß bis klein.

Bleistiftspitzen auf dem Boden,
umhergetastet, eingedrückt,
ein Tropfen Blut auf deinem Finger,
für dich gibt es kein zurück.

Letzte Woche Arztbesuch,
es scheint schon Jahre her zu sein,
seitdem vergeht die Zeit nur noch sehr langsam
und die Welt scheint irgendwie recht klein,

begrenzt auf deinen Horizont,
dein Tellerrand scheint ziemlich nah,
du weißt dass dahinter nichts mehr kommt,
ein Blick zurück auf das was war.

Ein kurzer Moment des Innehaltens,
ein Kramen in Erinnerung,
ein Stehenbleiben, Aussichtsplattform,
so als wärst du wieder jung.

Nur du im Kellerschein, ein Pappkarton,
du wühlst nochmal wie ein kleines Kind,
an deinem Finger klebt ein Tropfen Blut,
und durch die Kellertüre weht der Wind

ein Stimmgeflüster zu dir rein,
du hörst nur noch das Ende,
„wir wären jetzt soweit“,
zitternd hebst du deine Hände.

Ziehst ein letztes Mal die Spieluhr auf,
wie früher als du schlafen gingst,
du lässt den Dingen seinen Lauf
und das zurück woran du hängst.

Doch nicht wirklich, nicht wirklich gehst du jetzt,
nicht einmal sterben wirst du, denn dich gibt’s nur hier im Text,
in meinem Kopf, auf Löschpapier, auf dem ich dich erfand,
da war nur ich, dieser Gedanke und ein Stift in meiner Hand.

Ein Stift mit dem ich formlos schrieb,
was ich hoffe zu bekommen,
bevor‘s mich irgendwann mal nicht mehr gibt,
ein Haufen voll Erinnerung an eine schöne Zeit,
ein Lächeln bei nem Blick zurück,
ein positives Endfazit, das dann letztendlich bleibt.

Das wünsch ich mir, und allen hier,
hoffe, dass sie existieren,
die Pappkartons in eurem Keller
und hinter eurer Stirn.

 

Bildquelle Pixabay:

Auge – https://pixabay.com/de/photos/haut-auge-iris-blau-%C3%A4lter-falten-3358873/

Fotos – https://pixabay.com/de/photos/bilder-erinnerungen-nostalgie-630378/

Kiste – https://pixabay.com/de/photos/erinnerungen-bilder-fotos-alte-box-407021/

jns

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