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Politisches Zeitgeist-Theater: Ich bin Europa

Am 6. Februar 2020 feierte das Stück „Ich bin Europa“ der Gruppe Theater Rampös seine Premiere in der beueler Brotfabrik. Wie kam die zynische Verhandlung von Identität beim Publikum an? Warum verführt ein Paartherapeut seine Klientin mit Nudeln? Und was macht Europa so furchtbar Angst?

von Gerriet Scheben

Ich bin Europa? So komplex wie diese Frage sich gestaltet, so komplex ist auch die Inszenierung. Es ist unmöglich beides kurz und prägnant in Worte zu fassen. Der Versuch die Frage nach der Identität des Individuums und Europas stetig neu zu verhandeln, sollte zumindest immer wieder angestellt werden, wenn man dem Stück glauben möchte – und das darf man ruhig:

Ich bin Europa – eine nationale Standort-Bestimmung – wurde nach Texten von Falk Richter zusammengestellt. Das Stück entstand unter der Regie von Mascha Rauschenbach und Markus Weber, wobei Wiebke Sickel für die Choreografie zuständig war.

Die Bühne ist in verschiedene Ebenen unterteilt, wobei ein, in zwei Personifizierungen, gespaltenes Europa häufig über dem Geschehen oder schaukelnd in dessen Mittelpunkt steht. Der Strahlenkranz der zunächst positiven Europa wird im Verlauf des Stücks von dem negativen Europa abgenommen und krönt schließlich letzteres Sinnbild für geschichtliche, menschliche Tiefpunkte wie die zwei Weltkriege oder den Kolonialismus.

Credits: Herand Müller Scholtes
Credits: Herand Müller Scholtes

Das Stück ist vollgepackt mit politisch aufgeladenen Anspielungen, so hängt beispielsweise eine gelbe Weste im Hintergrund auf einer Leine – um nur eine der vielen Verweise zu nennen. Generell arbeitet die Inszenierung mit provokativen Bildern, wie einer Europa, die in eine Rettungsdecke gehüllt wird oder den Brotresten des Bürgertums, welche lieblos auf den Boden geschmissen werden.

Zu Beginn der Vorführung kochen bereits Nudeln auf der Bühne unten links, die später serviert, geworfen, lustvoll aufgesaugt und fein säuberlich an der Wäscheleine aufgehangen werden. Egal bei welchem Thema: Die Regisseure scheuen nicht davor zurück bittersten Zynismus in Worten, Handlungen oder Symbolen Ausdruck zu verleihen und das dringt zum Publikum durch.

Im Rahmen der Inszenierung verweben sich unter anderem ein spießbürgerliches Streitgespräch über die Flüchtlingspolitik, die Briefe einer radikalen Aussteigerin an ihre Mutter, eine Paartherapie welche zum Schluss kommt, dass man an zwei Personen mehr, als an einer Beziehung verdienen kann und eine nicht ganz so herzergreifende Rede von Beatrix von Storch. Nach letzterer fällt es dem Publikum spürbar schwer die erste Hälfte des Stücks zu beklatschen – was eine anregende Irritation verursacht.

Credits: Herand Müller Scholtes
Credits: Herand Müller Scholtes

Hinzu kommen noch eine Vielzahl von weiteren Textfragmenten und Themenkomplexen, wie die Rede einer ertrunkenen Flüchtenden, die äußerst bedrückend ist oder der erfolglose Versuch eines Individuums dem Konsum loszusagen. Das Gesamtkompositum wird dabei formal über mehrfach belegte Requisiten wie das Brot und die Nudeln und mehrfach belegte Rollen der Schauspieler verknüpft. Inhaltlich greifen und fließen die Bestandteile ineinander und verdichten sich zu einer Collage.

Stellenweise wiederholen und überschneiden sich Themen. Hierdurch werden der mediale Diskurs und zirkuläre politische Debatten, aber auch eine kreisende Reflexion des Individuums eingefangen. Das strengt an, aber darauf zielt das Stück auch ab. Und nach dem etwas anstrengenden Start der zweiten Hälfte erfrischt die polemische Abbildung einer modernen     Beziehung, deren Choreografie wiederholt Zwischenapplaus erntet.

Das Gezeigte ist ständig in Bewegung, wobei sich gegen Ende das Stücks eine große Zahl von Darstellern unheilvoll rechts vom Publikum, in einem sich trostspendenden Menschenhaufen, positioniert. Problematische, bzw. extreme, Meinungsäußerungen, welche beispielsweise online in Kommentarspalten auftauchen, finden sich in Zwischenrufen von Schlagwörtern. Eine temporäre Maskierung der Akteure verdeutlicht den negativen Deckmantel der Anonymität sowie den Verlust der Humanität und Individualität des Einzelnen, der Bestandteil einer radikalisierten Masse wird.

Credits: Herand Müller Scholtes
Credits: Herand Müller Scholtes

Das Stück befindet sich zudem sehr nah am Zeitgeist, welcher über das Verhalten der Figuren kritisch beleuchtet wird. So drücken sich diese zwar häufig hochkomplex aus, erscheinen aber durch das übersteigerte Überdenken von Problemen und sich selbst handlungsunfähig. Zudem fallen ihre Reaktionen meist entweder aufbrausend über- oder übervorsorglich untertrieben aus, was auch auf einen Verlust der politischen Mitte übertragen werden kann, aber in erster Linie auf die Überforderung des Einzelnen und der Gesellschaft hinweist.

Teilweise schwingt Komik in den verbalisierten Über- und Untertreibungen mit, aber die meiste Zeit stimmen diese eher nachdenklich, da sie sich besorgniserregend nah an aktuellen Ereignissen verorten (lassen).

Es wird aufgezeigt, dass der Einzelne verzweifelt um das Verständnis seiner Identität ringt – wie soll dann ein Zusammenschluss von Individuen in der Lage seine eine länderüberspannende Identität festzulegen und entsprechend dieser zu agieren?!

Außerdem wird problematisiert, dass Angst im Gegensatz zur Liebe die leitende Emotion des Individuums sowie Europas darstellt. Die Angst wird geschürt. Liebe hingegen verkommt in der zerdenkenden Gesellschaft zu einem „unterkomplexen“ Ideal, was im Zuge von Paartherapien (Institutionen) oder der pervertierten Selbstreflexion des Einzelnen aufgelöst und als zu großes Risiko abgetan wird. Es ist hierbei auch bitterböse und treffend, dass die Figuren Sex mit Liebe gleichsetzten.

Credits: Herand Müller Scholtes
Credits: Herand Müller Scholtes

Das grandiose Finale mündet darin, dass die bis dato gezeigte, facettenreiche Systemkritik über die Alternative eines Krieges relativiert wird. Zwei kurze Nachträge sind dann fast schon zu viel des Guten, da diese zwar zusätzlich zum Denken anregen, aber die Gefahr eines Krieges bereits Bände spricht.

Das Stück enthält wahnsinnig viel und will erstmal verdaut werden, wobei im Nachhall gefühlt immer noch weitere Denkanstöße aufkommen. Das Publikum klatschte bei der Premiere langanhaltenden Beifall, was nicht zuletzt an der großartigen Leistung des Ensembles festzumachen ist. Der eröffnende Abend verlief dem entsprechend sehr gelungen.

Man kann sich bereits auf die rampöse Aufführung von „PENG“ im Herbst diesen Jahres freuen.

https://webergps.wixsite.com/rampoes

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