Von Rosa Neumann
Tag 1: Ich klinge wie ein drittklassiger Sat1-Film im Nachmittagsprogramm
Endlose Hätte-ich-doch-stattdessen-Visionen ziehen vor meinem geistigen Auge an mir vor mir vorbei. Ausnahmsweise nicht bezogen auf toxische Beziehungen, verpasste Verhütungsgelegenheiten oder die tägliche Frage, ob ich nicht lieber hätte Gärtnerin werden sollen, statt Medienwissenschaft zu studieren. Sondern Gedanken an viele kleine, unbedeutend erschienene, verpasste Gelegenheiten.
Ich trauere um jede Blume am Wegesrand, die ich nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen habe, statt mir ein paar Minuten Zeit für ihre Schönheit zu nehmen. In Geschichten sind es immer die Sterbenenden, die es wagen, so einen dämlichen Schlonz von sich zu geben. Sterbe ich also bald? Scheiße, wenn ich bereits nach einem Tag sozialer Isolation klinge wie ein drittklassiger Sat1-Film im Nachmittagsprogramm, was erwartet mich noch?
Tag 2: Ich hänge sabbernd an meinem Handy vor Tinder

Tinder lenkt mich ab. Ich bin wie ein Kiffer, nachts um halb drei, im einzigen Kiosk, der nachts noch auf hat, mit ein paar herausgekramten Münzen in den Händen, auf der sehnsuchtsvollen Suche nach dem schnellen Zucker-Kick. Bunte Tüte? Bitte. Unbedingt. Alles rein. Viel für wenig Geld. Alles mal probieren.
Da ist zum Beispiel Thomas. Thomas ist 38 Jahre alt und hat einen dreijährigen Sohn. Seit zwei Minuten schreibe ich mit ihm, (also mit Thomas, nicht mit dem Dreijährigen), jetzt hat er mir schon erklärt, dass für ihn Kinder der wahre Sinn des Lebens sind. Und irgendwelche Östrogene sorgen dafür, dass ich sabbernd an meinem Handy hänge. Thomas schreibt mir, sein Sohn sagt, Papa und er brauchen eine neue Freundin. Thomas ist ein weicher Marshmallow. Ich stelle mir vor, wie ich mich an Thomas ankuschle. Thomas weiß, worum es im Leben geht. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen. Thomas ist da.
Und da ist Roman, der 31-jährige Tätowierkünstler, der mich auf Russisch angeschrieben hat, weil er dachte, wir seien Landsleute. Roman, der mir geschrieben hat, dass ich zu 99% wie seine Mutter zur Schulzeit aussehe. Roman, der gerne Rotwein trinkt und dabei malt. Ich frage mich, wie Roman nackt aussieht und ab wie vielen Weingläsern ich mich von ihm tätowieren lassen würde. Roman ist salzige Lakritze.
Oder Alexander, 41, sich selbst beschreibend als „analytic thinker“ und „open minded“, ein ganz aufgeschlossenes Mitglied der kinky community, beruflich erfolgreich, viel reisend und in einer offenen Beziehung, der „Leichtes Gepäck“ von Silbermond als Lieblingssong im Profil hat. Alexander ist irgendwas, das lustig aussieht und von dem man noch nicht ganz weiß, ob es salzig oder süß ist.
Sicherlich ist es moralisch nicht in Ordnung, Männer mit Süßigkeiten zu vergleichen. Aber seit ich in einer zeit- und raumlosen Kapsel namens Selbstisolation in nur einem Zimmer mit nur einem kleinen Fenster eingesperrt bin, nur weil ich meine Mitmenschen freiwillig vor einer nicht nachgewiesenen Infektion schützen möchte, lass ich mir mehr moralischen Spielraum als sonst.
Tag 3: Ich habe keinen Bock mehr, warum bin ich so müde?
Heute ist ein emotionaler Tiefpunkt. Was sich anfangs wie eine Melange aus aufregend-prickelndem RTL-Extrem-Selbstexperiment und spirituellem Silent Retweet angefühlt hat, ist Einsamkeit, Erschöpfung, Angst gewichen. Einsamkeit ist der Punkt, den ich noch am ehesten rational greifen kann. Aber wie kann ich erschöpft sein, ohne etwas getan zu haben? Wovor habe ich Angst? Warum bin ich müde?
Tag 4: Die Betriebsleitung hat Inventur angeordnet
Vor lauter Langeweile habe ich beschlossen mein Zimmer als Betrieb zu betrachten und mich zur Betriebsleiterin ernannt. Als erstes habe ich in meiner neuen Funktion Inventur gemacht und das Betriebseigentum katalogisiert. 37 Socken, 5 Pflanzen, 2 Gitarren, 1 Bass, 8 Ordner, 14 Fotoalben, 5 Lampen, 26 Kästen (nur einer davon ein Bierkasten), 1 Wasserkocher, 2 Föne, 1 Lockenstab, 20 BHs, 4 Spiegel, 1 Körpergewichtswaage usw. usw. Mein Fazit insgesamt: Der Betrieb kann erschreckend wenig Betriebseigentum von Wert vorzeigen und erschreckend viel Beweise, die darauf schließen lassen, dass sich die Betriebsleitung ungesund ernährt, sich an der Vergangenheit festklammert und ein eingebildeter Fatzke ist. Ich habe beschlossen, im nächsten Betriebsquartal dagegen vorzugehen.
Wie häufig in der Wirtschaft bedeutet das natürlich keine tiefergreifenden Veränderungsprozesse (Gott, wie anstrengend und unangenehm!), sondern ein Rebranding.
Ich habe die 5-Minuten-Terrinen, von denen ich mich seit fünf Tagen ernähre, um Geld zu sparen, in eine schwarze Kiste geräumt und vor die Tür gestellt. Dafür die Dinkelhafervollkornstangen und die Maismöhreningwerpulversuppen, mit deren Einkauf ich meinen Mitbewohner beauftragt habe, provokant auf meinem Schreibtisch platziert, wo sie mich seitdem verurteilend anblicken. Solange sie die einzigen sind, die ahnen, dass ich sie nie anrühren werde, sind mir ihre Blicke egal.

Meine Viktualien aus vergangenen Zeiten habe ich abfotografiert und dann entfernt. Die Digitalisierung der Museumsstücke bietet mir Bewahrung bei gleichzeitiger Bestandsreduzierung. Besonders schwer fiel mir das Entfernen meiner Handynummern-Sammlung, bestehend aus Kritzeleien auf Bierdeckeln und abgerissenen Flyerbruchstücken, die ich in einer über zehnjährigen Karriere als sexuell aktives Wesen erarbeitet habe. Von einfachen Nummern über Nummern-Namen-Kombinationen bis kreatives Anschreiben ist alles dabei. Möglicherweise ist kaum eine Nummer noch aktiv. Sicher ist, dass ich keine der Nummern jemals erneut wählen wollen würde. Trotzdem habe ich sie über Jahre gesammelt – die Beweise meiner Selbstverliebtheit landen im Mülleimer, in dem sich auch diverse Fotoalben türmen.
Tag 5: Stillleben auf einem Teller I
Auf meinem Schreibtisch steht seit zwei Tagen ein Teller. Auf dem Teller liegt ein Dinkelbaguette. Auf dem Dinkelbaguette liegt eine Scheibe zerschmolzener Käse. Zwei Tomatenscheiben sind leicht vom Käse gerutscht, man kann die Stellen, auf denen sie auf dem Käse auflagen, noch sehen. Dort, wo sich feuchte Tomate und geschmolzener Käse berührt haben, ist der Käse noch immer feucht. Zudem lassen sich leichte Druckstellen erkennen. Die Tomatenscheiben liegen leger halb auf dem Baguette, halb auf dem Teller. Die Ränder der Tomatenscheiben kräuseln sich bereits und sind leicht bräunlich. Ebenfalls vom Baguette gerutscht ist ein Möhren-Dinkel-Bartling. Er ist zu zwei Dritteln angebissen. Teilweise wurde geschmolzener Käse vom Baguette gekratzt, sodass sich jetzt ein kleiner Berg geschmolzener Käse an einer Ecke des Tellers anhäuft, der etwas schwitzt und an einen schmelzenden Gletscher erinnert, wie ein Mahnmal des Klimawandels, nur aus Käse.
Tag 6: Stillleben auf einem Teller II
Auf meinem Schreibtisch steht seit drei Tagen ein Teller.
Tag 7: Stillleben auf einem Teller III
Um mich nicht weiteren gesundheitlichen Risiken – neben einer potenziellen Corona-Infektion – auszusetzen, habe ich den Teller mit seinen verfärbten und veränderten Inhalten inzwischen entsorgt.
Tag 8: Die Uhr, meine neue intime Vertraute
Ich bin leer. Eine Woche Arbeit liegt hinter mit. In Quarantäne habe ich nur noch Arbeit. Keinen Ausgleich mehr. Keinen Sport. Keinen Spaziergang. Keine Kneipe. Keine Berührung. Ich stehe auf, arbeite, esse, ich gehe ins Bett, arbeite, esse, stehe auf, arbeite und so weiter und so weiter.

Statt zu arbeiten, starre ich jetzt seit einer Stunde nur noch die Wanduhr an. Ich höre die Uhr pochen. Jeder Schlag des Zeigers fühlt sich in meinem Kopf an wie der Schlag eines Schwertes. Gleichzeitig hat er etwas Mühsames. Warum ist mir vorher noch nie aufgefallen, wie sehr sich die Uhr quält?Sicherlich ist es anstrengend.
Das erste Geräusch ist hoch, das zweite Zucken tief. Aber es ist nicht monoton abwechselnd, immer wieder bricht das Muster. Hoch – tief – hoch – tief – tief – hoch – tief – hoch – hoch. Es hat etwas von Sisyphos, der sich den Berg hoch kämpfen muss, und jedes Mal von vorne.
Wer bin ich, dass ich mich in meinem Leben beschwere, voll zu viel Arbeit? Habe ich doch sieben Stunden Schlaf, wenn auch der Tag kaum Pause hat. Sie muss jeden Tag arbeiten, jede Minute. In meiner Brust breitet sich warmes Mitgefühl aus, mein Herz zieht sich zusammen. Ich steige auf meinen Hocker, nehme die Uhr von der Wand, schmiege sie an meinen Oberkörper und nehme die Batterie heraus. Ich drehe die batterielose Uhr um, das Zifferblatt zeigt jetzt zum Boden, und lege sie auf mein Bett. Schlaf, Uhr, du brauchst eine Pause.
Tag 9: Wimmelbild mit Melanie Schöfferhofer auf dem Weg zur Arbeit im blauen Citroen
Vor meinem Fenster liegt eine Straße. Die meiste Zeit nervt sie. Ich habe mehr Staub in der Wohnung, es ist laut, es stinkt. Jetzt gerade bin ich dankbar. Ohne die Straße würde ich noch mehr mein Gefühl für Zeit verlieren. Ohne die Straße wäre ich wie die Bilder bei Harry Potter: Ein beweglicher Mensch vor einer leblosen, stillen Landschaft, einem bewegungslosen Hintergrund. Etwas Lebendiges eingebettet in ein Stillleben.
Die Straße gibt mir das Gefühl, dass es weitergeht. Es hat etwas Tröstliches. Jedes von diesen kleinen Fahrzeugen hat ein klares Ziel vor Augen. Sind seine Fahrer noch in Gedanken am Ort, bei den Menschen, die sie gerade verlassen haben? Oder sind ihre Gedanken schon am Ankunftsort angekommen – ihren langsamen, körperlichen Ankern vorweggeilt. All die Menschen in ihren kleinen Toyotas, Audis, Citroens. Melanie Schöfferhofer auf dem Weg zur Arbeit, von Bergheim nach Köln, mit 1live im Radio. Hört sie natürlich nur beim Autofahren, privat mag sie lieber House.
Zwischen den Autos die E-Scooter-Fahrer, starr stehend wie Soldaten und gerade nach vorne blickend, gleiten sie elegant die Straße entlang, als würde eine unsichtbare Hand sie wie Spielfiguren über ein Spielfeld ziehen. Ich sitze an meinem Fenster, fühle mich wie eine Mischung aus Gott und einem Kind. Mit der Faszination für dieses Wimmelbild, bei dem es immer etwas zu entdecken gibt. Und dem Gefühl der Entrücktheit, dem über-allem-stehen. Lass sie ruhig wimmeln, die kleinen Melanies.
Tag 10: Städtische Lichtverschmutzung, Ketamin und etwas Hoffnung auf Pisse
Aus Anlass des baldigen Quarantäne-Endes habe ich endlich mal wieder ein Konzert besucht und eine Party gefeiert. Eingeladen war nur ein Gast: Ich. Der Abend begann vielversprechend mit dem Psychedelic-Rock-Konzert von Tame Impala, knisterndem Haze und einem kühlen Pils als Opener unter der Dusche.
Weitergeführt in der Küche, Human Performance Lab auf den Kopfhörern, ein paar Nasen Ketamin, ein paar Tropfen GBL, Techno mit etwas Klangspielerei, später im Garten eine halbe Schachtel Zigaretten geraucht. Tanzen unter den paar Sternen, die der Lichtkegel der Stadt durchflackern lässt, die Augen geschlossen, die Gedanken verschwommen, die Welt vergessen. Zwischendurch ein paar Flirts. Der Abend endete mit einer einsamen, aber bequemen Afterhour bei mir. Immerhin war der Heimweg kurz.
Ein hoch auf die Technik, ein Hoch auf JBL, Airpods und Bumble. Ein hoch darauf, sich als weiße, passdeutsche Mittelschichtsstudentin Drogen allein reinfahren zu können, ohne jede Angst vor Polizeikontrollen. Ein hoch darauf, dass ich keine größeren Probleme im Leben habe, als der einzige Gast auf einer Party zu sein. Aber scheiße, nichts geht über den Schweißgeruch anderer Menschen, über Blicke fremder Augenpaare, über das Aufeinander reagieren in Millisekunden.
Nichts geht darüber, zu sehen, wie sich ein Mund öffnet, wenn er ein Wort formt, das man noch nicht kennt. Nichts geht über nach Pisse stinkende, zugetaggte, enge Clubtoiletten, schlechte Tontechnik und Hörschäden, enttäuschende Auftritte seiner Bandidole, die kollektive Ekstase, die kollektive Enttäuschung. Fuck, ich fühle mich wie ein Haustier. Auf einmal tun mir all die Wohnungskatzen leid, die vor den Fenstern der Stadt hocken. Sehnsuchtsvoll die Nase gegen das Fenster drückend, nach draußen schauend, vom Leben träumend.

Titelbild: Photo by Michaela Filipcikova on Unsplash