Aktuelles Gesellschaftsleben

Kurzgeschichte: Gedanken eines Griesgrams

Eine Kurzgeschichte von Elena Stickelmann

Ich stehe auf einer Wiese. Bunte Wildblumen umringen mich. Ich genieße das milde Wetter und den leichten Wind. Heute ist ein schöner Tag. Die Sonne scheint sanft vom Himmel und die Vögel singen liebliche Melodien. Es ist alles perfekt. Ich strecke meine Arme gen Himmel aus und lasse den Wind meinen Körper umwirbeln. Die zarte Berührung belebt mich. Die Brise gleitet hinunter zu meinen Beinen und Füßen und verläuft sich dort.

Plötzlich spüre ich, wie die Berührung wieder fester wird. Nicht eine Berührung, nein sogar mehrere. Mehrere Hände, und mehrere…Körper? “Was ist das?”, denke ich und schaue an mir herunter. “Oh nein, nicht schon wieder, es reicht!”. Genervt erblicke ich etliche Naturschützer, die mich festhalten, naja fast schon umarmen, erdrücken. Sie bilden eine Menschenkette um mich herum. “Ich hasse Umarmungen, geht weg!”, schreie ich, doch sie scheinen mich nicht zu hören oder hören zu wollen. Meine anfängliche gute Laune kippt, ich möchte einfach nur das Wetter genießen und nicht berührt werden. Mein Artgenosse Hartmut neben mir sagt zu mir: “Du siehst aber gar nicht gut aus!” “Ja, ich weiß. Ich habe homo Sapiens”, sage ich. “Das kenn ich, das geht vorbei!”, sagt Hartmut und beruhigt mich damit ein wenig. Nach einer ewig langen Umarmungsprozedur mit den Naturschützern – ich habe sie so getauft, weil sie unaufhörlich “Naturschutz! Naturschutz! Naturschutz!” brüllen, was auch immer das bedeutet – lassen sie von mir ab und ich sehe, wie sie zum nahegelegenen Braunkohlekraftwerk weiterziehen.

Ich bin ganz aufgeregt, heute ist es endlich soweit. Ich verliere meine erste Ernte an Äpfeln. So schön groß und rosig sind sie gewachsen und nun wird die Schwerkraft sie einholen und zu Boden ziehen. Dort spenden sie dann den Wald- und Erdbewohnern Nahrung für den kommenden Winter.
Ein paar Tage später habe ich fast alle meine Früchte verloren, die schon gefallenen liegen noch fest und prächtig auf dem Waldboden. Doch was ist das? Ich höre Schritte. Einige Minuten später stehen erneut diese nervigen Naturschutz-Fanatiker vor mir. Ich bereite mich schon einmal mental auf die nächste Umarmungsrunde vor. Doch dieses Mal fassen sie mich nicht an. Ich schaue verwirrt an mir herab und im nächsten Moment stockt mir der Atem. Sie sammeln – das darf doch nicht wahr sein – MEINE FRÜCHTE ein! “Heh, was soll das? Ihr könnt doch nicht einfach die Früchte wegnehmen, wovon sollen sich denn die ganzen Tiere ernähren? Hey, ihr Diebe!”, rufe ich Ihnen wütend zu, doch abermals scheinen sie mich nicht zu hören. Aus den Gesprächen der Früchtediebe entnehme ich, dass sie einer Art frutarischer Ernährungsweise frönen, also nur die Dinge essen, die die Natur freiwillig hergibt. “Nichts da freiwillig! Es war harte Arbeit, diese Äpfel wachsen zu lassen und das habe ich bestimmt nicht gemacht, damit ihr komischen Figuren mit einer Neurose für Umarmungen sie ohne weiteres einsammeln und beanspruchen könnt”, proklamiere ich. Ich bin so wütend und aufgebracht, doch meine starken, festen Wurzeln lassen es nicht zu, mich gegen sie zu wehren, es ist zwecklos. Meine wertvollen Äpfel sind ihnen ausgeliefert. Ich sehe wie sie alle Exemplare einpacken und in großen Körben von mir wegtragen.

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Gerade habe ich ein kleines Nickerchen gemacht und mich über den Apfelvorfall vom Morgen abreagiert, da kündigt sich mit lautem Geschrei das nächste Unheil an. Zwei Kinder rennen in der Mittagshitze voller Elan auf mich zu und beginnen, an mir hochzuklettern. “Ich hasse Kinder!” sage ich seufzend und genervt zu mir selbst. Noch mehr hasse ich Kinder, die meinen, ich sei ein voll ausgestattetes Klettergerüst. Ich war es nicht. Das Klettern der Kinder schmerzt, und ich versuche sie abzuschütteln. Sie halten sich jedoch hartnäckig und umklammern meine Äste mit ihren dünnen Ärmchen. Zu allem Übel bemerke ich, dass sich mir weitere Menschen nähern. Zu meinem Bedauern kommen die Mütter der beiden Kinder dazu und knipsen Fotos von deren Belagerung. “Ich hasse Fotos. Nie hat jemals jemand meine Schokoladenseite gut abgelichtet bekommen”, sage ich theatralisch und versuche erst gar nicht mir einen halbwegs freundlichen Gesichtsausdruck abzuringen. Im Gegenteil: ich versuche so böse dreinzuschauen wie nur eben möglich. „Ha, den habe ich es gezeigt“, denke ich triumphierend.

Kurze Zeit später sehe ich ein verliebtes Pärchen durch den Wald schlendern. „Wie schön und romantisch“, denke ich und freue mich tatsächlich, zwei so glückliche, friedliche Menschen zu sehen. Händchenhaltend schlendern sie auf mich zu und verweilen für eine kurze Zeit unter meinem Schatten-spendenden Haupt.
Doch was machen sie nun? Was treiben die da? Ich traue meinen Augen nicht. Der Mann zückt ein Taschenmesser und fängt an, etwas in meine Haut zu ritzen. “Ahhh, aua. Hilfe, ich werde angegriffen!”, rufe ich verzweifelt. Niemand kommt mir zu Hilfe. Ich brülle die beiden an: “Ich schnitze doch auch nichts in eure Haut, geht gefälligst weg von mir und lasst mich in Ruhe, ihr Vollpfosten!” Sie hören mich nicht. Ich schaue an mir herunter. Na super, der Schriftzug `Serafina-Chantal & Jeremy-Pascal: in love foräver end äver´ ist nun dick und fett in meinen Stamm eingeritzt und ich muss bis in alle Ewigkeit mit dieser Schande auf meiner Haut leben.

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So langsam regen mich diese Menschen ziemlich auf. Sie haben keinerlei Respekt vor der Spezies, die ihnen die tägliche Luft zum Atmen produziert. Sie fassen mich unerlaubt an, klettern an mir hoch, stehlen meine Äpfel und ritzen komische Namen in meine Haut. Mittlerweile bin ich sehr angepisst davon, nicht die nötige Anerkennung von den Menschen zu bekomm… was ist das? Mir wird ganz warm, ja sogar feuchtwarm. Etwas nasses an meiner Wurzel. Ich schaue an mir herunter und erblicke den Übeltäter: „Oh mein Gott, das gibt es doch nicht!“, rufe ich entsetzt. Ich entdecke einen kleinen, dürren Chihuahua, der mich doch jetzt allen Ernstes angepinkelt hat. „Meine schönen Wurzeln!“ hauche ich. Der Chihuahua ist noch nicht fertig, nein: er hockt sich nieder und setzt mir einen prächtigen Haufen auf meine Wiese. „Das ist ja wohl unerhört, wer macht denn sowas!“ Der Gestank ist unerträglich. „Nimm´ gefälligst deinen Scheiß mit, den du produzierst!“ rufe ich dem hässlichen Hund erbost nach. Ich sehe seinen hochnäsigen Kopf davon dackeln. Schließlich macht sich auch noch Artgenosse Hartmut über mich lustig: „Schöne Scheiße hast du da.“ „Ha ha“ sage ich und drehe mich genervt weg. An diesem Morgen erwache ich von einem brummenden, scharfen Geräusch. Das Geräusch habe ich schon mehrmals gehört, aber immer nur aus weiter Entfernung. Jetzt scheint es ganz nah zu sein. Das Brummen kommt näher. Jetzt sehe ich Menschen, die grün-braune Uniformen tragen. Sie haben große elektrische Messer bei sich und beginnen, einzelne Äste von Hartmut abzuschneiden. „Oh nein das ist … das ist die schlimmste Sorte der Menschen“, stammele ich. Sie kommen, um uns unseres Schatzes zu bestehlen – unser Holz – aus dem sie dann unnötiges Papier zum Festhalten ihrer bürokratischen Angelegenheiten herstellen. Ich sehe, wie mein Artgenosse leidet. Ich kann nichts tun, ich kann ihm nicht helfen. Schließlich setzen die braungrün gekleideten Menschen mit etwas, das sie Säge nennen, an seinem Stamm an. So etwas habe ich zuvor noch nie gesehen: Stück für Stück gleitet die Säge tiefer in seinen Stamm, Hartmut beginnt zu kippen. Nach ein paar Minuten fällt er um und liegt nun elend und seiner Äste beraubt auf dem Waldboden. „Was haben sie getan“, denke ich entsetzt. Sie haben ihn umgebracht.

Nun kommen sie auf mich zu. Ich ahne schlimmes. Einer der Mörder sagt: „Weiter geht’s, das hier ist der Nächste.“ Ich bin fassungslos, diese Menschen sind auch noch Serienmörder. Skrupellose Serienmörder. Ich gebe alles, um dem bevorstehenden Tod zu entfliehen, doch meine Wurzeln bewegen sich keinen Zentimeter. Ich bekomme Panik, mir läuft der Harz aus den Rinden, einige meiner Blätter fallen vor Furcht ab. Plötzlich sagt einer der Gruppe: „Hey, hört mal alle zu, Abbruch! Wir müssen zu einem anderen Wald, da hat sich wieder so ein Irrer an einen Baum gekettet.“ Ich atme erleichtert auf: „Puh, noch einmal Baum gehabt.“

Quelle Beitragsbilder: pixabay.com

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