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Kurzgeschichte: Ferngesteuert

Eine Kurzgeschichte von Vanessa Rheinschmidt

„Guten Morgen, Sara. Es ist 7.30 Uhr. Du hattest eine angenehme Nacht“, berichtet Tom leise. Die Jalousien öffnen sich automatisch, Sara streckt sich. Draußen geht gerade die Sonne hinter den Hochhäusern auf, die Stadt scheint schon wach zu sein. Ein kurzer Blick auf das Smartphone, sie läuft ins Bad. Das Licht geht an und Tom ist wieder da: „Dein Schlaf war angenehm. Deine Tiefschlafphase nahm 37 Prozent deines Schlafes ein. Du bist körperlich leistungsfähig“, ertönt es aus den Lautsprechern an der Zimmerwand ihres Einzelapartments. Sara tippt auf ihr Armband und schaut sich ihren Schlafverlauf an. Tom weiß viel über Sara, denn er ist immer bei ihr. „Dein Gesundheitszustand ist gut.“ Das bestätigen auch die Daten auf ihrer Armbanduhr, die Sara jeden Morgen studiert. Das kleine System kann einiges. Es misst Herzfrequenz, Puls, Gewicht, Schlafqualität und viele andere Dinge, von denen Sara nichts versteht. Von denen wahrscheinlich niemand so richtig etwas versteht. Aber das hat schon alles seine Richtigkeit. Die Daten werden an das digitale Gesundheitssystem weitergleitet. Wenn etwas nicht stimmt, kontaktiert das Gerät sofort die Ärzte und in einem akuten Fall das Ministerium. Das kommt aber so gut wie nie vor, alle befinden sich in einem sehr stabilen Zustand.
Sara duscht, trocknet sich ab und tippt auf einen kleinen Kreis an der rechten unteren Ecke ihres Spiegels. Er wird zum Screen und präsentiert Saras persönlichen Gesundheitszustand. Außerdem erscheinen die neusten Nachrichten aus aller Welt, persönliche Kurzmitteilungen und die To-Do-Liste für den heutigen Tag.

© Milada Vigerova/Pixabay
© Milada Vigerova/Pixabay

„Vergiss nicht die Pille einzunehmen“, erinnert Tom sie als sie sich an den Barhocker in der Küche setzt. Sie liegt wie gewöhnlich in einer durchsichtigen Dose, die kleine weiße Pille. Sie schluckt sie mit einem großen Schluck Wasser runter, wie jeden Morgen seit dem Ende des dritten Weltkrieges vor ungefähr vier Jahren. Aufgrund der chemischen Waffen, die dort eingesetzt wurden, sieht es das Ministerium vor, dass sich die Menschen jeden Morgen selbst medikamentieren um nicht an den toxischen Substanzen zu erkranken, die sich nach wie vor in der Umwelt befinden und womöglich nicht so bald verschwinden werden.

Schnell putzt sich Sara die Zähne und fährt in das Untergeschoss ihres Wohnblockes. Auf dem Weg zur Haltestelle findet sie auf der Treppe sitzend einen Mann mit zerzausten Haaren und glasigen Augen. Unüblich, denkt sich Sara. Seit Jahren hat sie so jemanden nicht mehr auf der Straße gesehen. So etwas Obdachlose gibt es ohnehin überhaupt nicht mehr. „Das ist alles ein Vorwand. Die Regierung verarscht uns, sie schwächt uns“, faselt er und blickt zu Sara. „Mädchen glaub mir das, die Pille, die Impfung, das ist Wahnsinn. Es gibt keine Epidemie“, fügt er hinzu. Er schaut irgendwie verwirrt, fast ungesund aus. Sara entscheidet sich dazu den Obdachlosen zu ignorieren und macht sich auf zur Arbeit. So etwas wie Mitgefühl verspürt sie schon lange nicht mehr.

17 Uhr, Feierabend. Sara begibt sich in die U-Bahn nach Hause. Als sie an ihrer Haltestelle ankommt, fällt ihr der Mann vom Vormittag wieder ein. Doch in der Station trifft sie ihn nicht mehr an. Immer wieder muss sie an die Worte des Mannes denken. „Die Impfung, das ist Wahnsinn. Es gibt keine Epidemie.“ Natürlich hat sie sich schon oft gefragt, was die Pille genau mit ihrem Körper macht und ob es tatsächlich noch giftige Chemikalien in der Atmosphäre gibt. Natürlich hat sie sich schon oft darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn sie einen Tag die Pille aussetzt. Gewagt hat sie es noch nicht. Medienberichten zufolge hat es schon den einen oder anderen Widerständigen gegeben. Und eine Verweigerung der Einnahme würde sofort an das Ministerium weitergeleitet werden.
Um 22.30 Uhr schließt Tom die Jalousien. Sara blickt noch einmal auf ihr Armband. 9.740 Schritte, eine Herzfrequenz von 73, Sauerstoffgehalt im Blut: optimal.

Auch am nächsten Morgen ist der verwirrte Mann noch in Saras Kopf. Was wäre, wenn, denkt sie sich. Sie studiert ihren Schlaf, dann ihren Gesundheitszustand. Alles ist in Ordnung, alles ist wie gewohnt. „Deine Pille liegt bereit“, erinnert Tom sie als sie die Küche betritt. An diesem Morgen schaut sie sich die kleine weiße Kugel genauer an und grübelt. Was ist, wenn der Typ recht hat? Soll ich es probieren? Engelchen und Teufelchen wägen in ihrem Kopf die Argumente für und wider ab. Kurzerhand entschließt sich Sara das Medikament an diesem Tag nicht zu nehmen. Ein wenig mulmig ist ihr dabei schon. Sie legt die Pille auf ihre Zunge, schluckt sie aber nicht runter. Zur Sicherheit legt Sara sie wieder in das Döschen und nimmt es mit zur Arbeit. Sie fährt in den untersten Stock und steigt in die U-Bahn in Richtung Büro.
„Du musst deine Pille einnehmen“, meldet sich Tom als sie das Großraumbüro betritt. Wieso, denkt sie sich. Bis jetzt ist doch alles völlig normal. Sara ignoriert den Hinweis, denn ihr Terminkalender ist voll.
Gegen Mittag macht sich ihr Bauch bemerkbar. Irgendwie ist es ihr flau im Magen. Sara schaut aus dem Fenster, blickt auf die von Menschen gefüllte Straße und dann in den Himmel. Sie erblickt die buntesten Farben und verschiedene Formen. Es fühlt sich an als könnte sie die Farben schmecken. Es fühlt sich ungewohnt, aber schön an. Ihre Hände fangen an zu kribbeln. Sie denkt an Philipp, an den sie schon seit Jahren nicht mehr gedacht hat, an ihre Familie und an alte Freunde, zu welchen sie schon lange keinen Kontakt mehr hat. Sara fühlt sich glücklich, aber gleichzeitig auch traurig. Sie muss lachen, als ihr eine Träne über die Wange rollt. Ihr Leben spielt sich vor ihrem inneren Auge ab: Alle Situationen, Gefühle und Momente der vergangenen Jahre sind plötzlich wieder da. Das Leben vor dem Atomkrieg, als noch alles ganz anders war. Sara versucht sich zu sammeln. Alles ist gut, das sind sicher die Nebenwirkungen denkt sie sich. Tom meldet sich wieder: „Sara, du musst deine Pille nehmen, sofort.“ Sie möchte ihn ignorieren. Es fühlt sich an, als würde ihr Kopf platzen. Die Menge an Gedanken und Emotionen ist Sara nicht gewöhnt. Er meldet sich erneut: „Die Pille einnehmen, sonst wird das Ministerium kontaktiert.“ Sara spürt, wie heiß ihr Gesicht plötzlich ist. Ihr ganzer Körper wird plötzlich heiß. Ihre Hände sind nasskalt und ihr Mund trocken. Ein Blick auf ihr Armband: 100 Herzschläge pro Minute, Körpertemperatur 41 Grad. Sara kramt in ihrer Tasche nach der Pille. Sie wird ohnmächtig.

Am nächsten Morgen wird Sara wieder von Tom geweckt. „Guten Morgen, Sara. Es ist 7.30 Uhr. Du hattest eine angenehme Nacht“, berichtet er leise aus den Lautsprechern in der Zimmerwand. Sara blickt auf das Armband. Es zeigt einen tiefen Schlaf und einen stabilen Gesundheitszustand an. „Du bist körperlich leistungsfähig“, ergänzt Tom. Alles ist okay. Sie huscht ins Bad, duscht, trocknet sich ab und studiert wie üblich die neusten Nachrichten und ihre To-Do-Liste für den heutigen Tag. Die ist, wie immer, endlos lang. Eine Nachricht fällt ihr besonders auf. „Junge Frau verweigert Pille und dreht durch“, titelt ein Nachrichtendienst. Diese Leute sind unglaublich, denkt sie sich. Was ist nur mit ihnen los? Es kann doch nicht so schwer sein ein überlebenswichtiges Medikament zu nehmen, ärgert sie sich. Sara zieht sich an.
„Deine Pille liegt bereit“, erinnert sie Tom, als sie die Küche betritt.

Beitragsfoto: © Kat Jayne/Pexels

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