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Kurzgeschichte: Besser allein

Von Leandro Barreto

Der Benachrichtigungston eines Handys klingelte. Arthur erhielt eine neue SMS.

„Ich freue mich auf unser Treffen um 19 Uhr. 🙂 Paul“, las der 35-jährige Musikjournalist, der Lust auf eine vierte Tasse Kaffee hatte.

In der Küche der Redaktion unterhielt er sich kurz mit zwei Arbeitskolleginnen. Es war 17:30 Uhr. Der Feierabend stand vor der Tür.

Eine der Kolleginnen sprach ihn an:

„Hi Arthur, hast du heute etwas vor? Lea und ich gehen jetzt in die Bar um die Ecke etwas trinken. Ihr neuer Freund wird dabei sein. Möchtest du mitkommen?“

„Vielen Dank, aber das passt mir nicht. Ich bin müde“, erwiderte er.

Als die Kolleginnen weg waren, nahm er seine Tasse aus der Kaffeemaschine, daraufhin sein Handy aus der Hosentasche und antwortete Paul:

„Alles klar, bis später!“

„Bin ich die einzige Person im Büro, die noch single ist und keine engen Freunde hat?“, fragte er sich.

Arthur ging zu seinem Arbeitsplatz zurück und packte seine Sachen zusammen.

Auf der Straße schaute er auf seine Uhr. Seine 40 m² Wohnung lag ca. 30 Minuten zu Fuß von seinem Arbeitsort entfernt. Ein Spaziergang auf dem Heimweg an einem Sommertag wäre schön gewesen.

„Ich fahre lieber mit der U-Bahn, damit ich etwa mehr Zeit vor dem Date habe.“, plante er.

Treppen runter, Treppen hoch. Alle liefen schnell in der Station. Der Zug hielt an und Arthur stieg ein.

Es gab keinen freien Platz mehr. Arthur musste stehen. Die stickige Luft erhöhte die Temperatur im Bahnwagen. Das überlaute Geräusch der Verkehrsbewegung und die schlappen Gesichtsausdrücke störten ihn.

„Musik wäre genauso schön wie ein Spaziergang auf dem Weg nach Hause“, dachte der aufgeregte Mann.

Kopfhörer an. Ein Lied fing an. Sprunghafte Töne aus Synthesizern kombiniert mit einer einzigartigen hohen weiblichen Stimme waren zu hören.

If I only could, I’d make a deal with God, And I’d get him to swap our places“, lautete der Refrain.

Dieses war eines seiner Lieblingslieder.

Als er das Lied hörte, machte er seine Augen zu. Arthur stellte sich vor, wie Paul außerhalb der o

Online-Welt wohl wäre.

Obwohl beide seit zwei Wochen miteinander schrieben, kannte Arthur nur wenige Aspekte des Lebens seines digitalen Gesprächspartners – er war 38 Jahre alt und vegetarisch, sah wohlgeformt aus, arbeitete als Buchhalter in einer Bank, mochte Sport, lebte in einem vermögenden Viertel und sein Sternzeichen war Wassermann.

Arthur wollte nicht jede Information über Pauls Leben erfahren – es wäre überhaupt nicht möglich. Die schnelle und objektive Kommunikation des Internets ermöglicht kein vertieftes Kennenlernen. Bei Arthurs Reflexionen handelte es sich nämlich um keinen Wunsch das Ganze kennenzulernen, sondern um etwas Anderes:

„Würde es Paul akzeptieren, unsere Rollen durch ein Handel mit Gott zu tauschen, wenn das möglich wäre? Würde er für einen Tag an meiner Stelle sein wollen? Was hätte er absichtlich vor mir verstecken können? Welche Informationen über ihn sind wahr? Basiert sein Profil auf einem Stereotyp des erfolgreichen und schönen schwulen Mannes, um andere Männer von seiner Figur zu überzeugen? Wäre er gerade genauso unsicher wie ich? Ihm habe ich nicht erzählt, dass mir Patti Smith, PJ Harvey und Kate Bush sehr gut gefallen. Wird er immer noch an mir interessiert sein, wenn ich ihm von meinem Musikgeschmack erzähle? Merkte er, dass ich kein Fußballfan bin, als ich dieses Thema übersah? Ich brauche keine Enttäuschung mehr.“

Diese Fragen erschienen plötzlich zusammen mit Erinnerungen an sein letztes Date.

Als Arthur sich vor drei Wochen mit jemandem namens Edgar zum ersten Mal traf, merkte er ungefähr nach einer Stunde, dass etwas bei dem Mann nicht stimmte.

Der Typ studierte nicht Soziologie, sondern Geologie.

Das Treffen fand bei Edgar statt. Auf seinen Regalen standen nur naturwissenschaftliche Bücher.

„Edgar, sag mir nochmal – Was studierst du denn?“, fragte Arthur, als er das erste Band einer sogenannten Sammlung Historische Geologie umblätterte.

„Ich studiere Geologie. Und du?“, antwortete Edgar sofort.

„Las er mein Profil? Hat er vergessen was auf seinem Profil stand?“, dachte Arthur, als er lächelte und Edgars Frage mit Geduld beantwortete.

Der Abend war trotz allem schön.

Für Arthur war es bereits klar, dass das Treffen am Ende nur Sex sein könnte.

Nach dem Essen tranken beide ein Glas Whiskey. Das zweite Glas kam nach dem ersten und nach dem dritten das vierte. Zwischendurch gab es auch Kokain.

Nach viel Gerede schauten die beiden sich an und küssten sich. Sie zogen sich voreilig aus. Ihre Klamotten lagen überall auf dem Fußboden im Wohnzimmer verstreut.

„Du bist heiß“, sagte Edgar, als er den nackten Körper Arthurs auf der Couch betrachtete.

„Wird Paul mich auch heiß finden? Also, die Einladung zu dem heutigen Treffen ging von seiner Seite aus. Er sollte mich zumindest attraktiv gefunden haben. Wenn er mich angelogen hat, werde ich letzten Endes wenigstens Spaß gehabt haben, genauso wie bei Edgar war“, Arthur versuchte optimistisch zu sein und sich keine Fragen mehr zu stellen.

Allerdings dachte er noch über Paul nach:

„Er ist wahrscheinlich ein Narzisst. Auf dreien seiner fünf Profilbilder hatte er kein T-Shirt an. Komisch… Wieso kann jemand im Finanzbereich arbeiten und vegetarisch sein? Weiß er nicht, dass Banken und viele anderen Kreditgeschäfte die Produktion von Rindfleisch finanzieren, die einer der größten Auslöser der Abholzung des Regenwaldes ist?“

Bevor der Zug an der nächsten Station hielt, drängte sich eine Frau eilig an ihm vorbei. Sie wollte vor der Tür stehen, um so schnell wie möglich aussteigen zu können. Unabsichtlich trat sie auf Arthurs linken Fuß. Das tat ihm nicht weh, aber rettete ihn vor weiteren Gedanken. Er musste ebenfalls aussteigen.

Treppen runter, Treppen hoch. Als Arthur endlich 500m entfernt von seinem Haus war, stellte er fest, dass er Bargeld brauchte. Er drehte sich um und lief zum nächsten Geldautomat. Auf dem Weg rief er sein online Bankkonto ab:

„Miete, abgezogen; Handy und Internet, abgezogen; Rate der Reise nach Israel, abgezogen. Scheiße! Ich habe nicht mehr viel Geld übrig.“

Er hob 50 Euro ab und ging schnell nach Hause. Es war 18:15 Uhr.

Treppen hoch bis zum Dachgeschoss. Er machte die Tür auf und ging direkt in die Küche.

Seinen Rucksack stellte er auf einem Stuhl ab.

Arthur nahm eine Dose mit einem Rest Paella und stellte diese in die Mikrowelle. Zwei Minuten wartete er, bis das Essen warm war.

„Bip, bip…“, signalisierte das Gerät.

„Guten Appetit für mich“, sagte er.

Als er aß, erinnerte er sich an seine Mutter.

Seitdem er sich als schwul geoutet hatte, war ihre Verbindung abgebrochen.

Seine Mutter hatte ihm oft erzählt:

„Wenn man isst, werden alle Wahrnehmungsarten verwendet.“

Je fokussierter Arthur die Stücke der roten Paprika, den gelben Reis und die orangen Garnelen auf dem Teller ansah und den Koriander roch, desto mehr genoss er das Gericht.

Seine Mutter interessierte sich für alles in Bezug auf synästhetische Empfindungen. Sie war gierig nach den Gedichten von Arthur Rimbaud, der die Verwendung der Synästhesie meisterte.

Der Name ihres Sohns zeugte von ihrer Begeisterung für diesen Dichter.

Arthur verließ die Küche und saß auf seinem Sofa im Wohnzimmer. Er umfasste seinen Bauch und sagte zu sich selbst:

„Vielleicht sollte ich weniger Bier trinken.“

Daraufhin machte er sich eine Pfeife mit Haschisch an.

Er fühlte sich faul und wohl.

Ein paar Minuten später machte er seine Jeans Hose auf und zog sie runter.

Der müde Mann suchte sich eine gemütliche Position aus, um sich hinzulegen.

Arthur fing an zu wichsen und steckte drei Finger seiner linken Hand in seinen Mund.

Als seine Finger durch den Speichel komplett nass waren, steckte er die Finger in seinen Anus.

Je mehr er die Finger spürte, desto schneller wichste er.

Das Handy klingelte. Eine neue Nachricht von Paul ging ein:

„Wo bist du? Kommst du nicht mehr?“

‚I know when to go out, know when to stay in. I don‘t believe in modern love‘“, antwortete Arthur, bevor er sein Handy ausschaltete.

Seine Einsamkeit bereitete ihm Freude.

*Die hier verwendeten Kunstwerke sind vom Künstler João Gabriel, der am 21.03.2022 dem Autor die Zusage für die Verwendung seiner Bilder ausschließlich als Illustrationen dieses Online-Beitrags gab.

**Dieser Beitrag verwendete ebenfalls Zitationen der Lieder Running Up That Hill von Kate Bush und Modern Love von David Bowie.