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Kunterbuntes Erinnern – die East Side Gallery

Die East Side Gallery gehört zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten Berlins, ihre Kunstwerke werden millionenfach über soziale Netzwerke verbreitet. Fraglich bleibt dabei allerdings, ob ihr ursprünglicher Zweck, an den Mauerfall zu erinnern, dabei noch im Vordergrund steht.
von Louisa Goldstein

Teilweise versucht ein Zaun die Kunstwerke zu schützen (Foto: Louisa Goldstein)
Teilweise versucht ein Zaun die Kunstwerke zu schützen (Foto: Louisa Goldstein)

1316 Meter lang kann man an ihr entlang schlendern, 101 Bilder dabei bewundern. Unterbrochen wird dieses Flanieren nur vom wiederholten Anhalten, weil jemand ein Foto macht oder sich strategisch günstig mit einem Selfiestick versucht zu positionieren. Diese ragen wie visuelle Tonabnehmer über den Köpfen ihrer Besitzer empor, setzen die bunten Farben der längsten Open Air Gallery der Welt fort und fangen dabei Erinnerungen von Erinnerungen ein, die das eigentliche Feiern von Freiheit, Gleichheit und Frieden mit denen eines Ich war hier! Ich bin schließlich in dem Foto! überlagern, das bei manchem ein reines Abhaken einer imaginären (oder wirklich auf Papier, beziehungsweise dem Smartphone existierenden) Liste zu sein scheint, um dann direkt zum nächsten „Must-See“ zu stürmen, damit man wirklich alles, was man in Berlin gesehen haben muss, auch gesehen hat. Wer auch immer das festlegt.

Facebooks Vorwegnahme (Foto: Louisa Goldstein)
Facebooks Vorwegnahme (Foto: Louisa Goldstein)

Danach folgt dann weniger ein Auseinandersetzen mit der Geschichte und Bedeutung dieses Ortes, sondern eher die Überlegung, ob man einen voreingestellten Filter für Instagram nehmen soll, oder selbst die Sättigung, Schärfe und Struktur einstellt, bevor dann der kreative Schaffungsprozess der Hashtagauswahl folgt (#selfie #berlinwall #Wanderlust #Iwokeuplikethis #streetart #memyselfandI #travel), nachdem man sich noch für verschiedene Personen oder Channels entscheidet, die auf dem Bild verlinkt werden. Nicht zu vergessen ist natürlich die Ortsangabe. Danach beginnt dann das Warten auf den Strom an virtuellen Herzchen und Kommentaren, die von treuen Abonnenten oder Unbekannten unter das Bild gesetzt werden und damit nur bestätigen, dass man definitiv die richtige #bucketlist für Berlin angefertigt hat.

„Mr. Gorbachev, tear down this wall!“ – Ronald Reagan, 1987

Go West! (Foto: Louisa Goldstein)
Go West! (Foto: Louisa Goldstein)

Doch was genau wollten uns die Künstler eigentlich damit sagen? Ist die East Side Gallery Kunst oder kann sie weg?
Nach dem Fall der Mauer 1989 begann bereits im Februar 1990 die Bemalung des längsten noch zusammenhängenden Stückes der Berliner Mauer an der Mühlenstraße in Berlin-Friedrichshain. 118 Künstler aus 21 Ländern schufen dabei 106 Bilder, die das bildeten, was heute als East Side Gallery bekannt ist. Bereits ein Jahr später, wurde sie unter Denkmalschutz gestellt – bis heute allerdings kämpft sie gegen Witterung und Vandalismus. Um diesen Widrigkeiten etwas entgegenzusetzen, gründete sich 1996 der Verein Künstlerinitiative East Side Gallery e.V., in dem viele der Künstler Mitglied sind, die die Mauer nach ihrem Fall bemalten. Erste Restaurationen begannen im Jahr 2000, der Berliner Senat gab 2008 weitere zwei Millionen Euro für umfassende Sanierungen frei, die 2009 zur Wiederherstellung von 100 Bildern durch 87 Künstler führte. Einige Künstler protestierten gegen die Sanierung und weigerten sich, ihre eigenen Bilder erneut zu malen, sodass an einigen Stellen grau übermalte Flächen die ehemaligen Bilder verdecken. Seit 2015 wird die Mauer erneut schrittweise gereinigt.

Erich Fried und der Vandalismus (Foto: Louisa Goldstein)
Erich Fried und der Vandalismus (Foto: Louisa Goldstein)

 

 

„Darüber hinaus ist die East Side Gallery bis heute das einzige authentische Denkmal der Wiedervereinigung.“ – eastsidegallery-berlin.de

Der Bruderkuss (Foto: Louisa Goldstein)
Der Bruderkuss und seine Zuschauer (Foto: Louisa Goldstein)

Die meisten Besucher bleiben bei Dmitris Wrubels Mein Gott hilf mir, diese tödliche Liebe zu überleben stehen – auch bekannt als Der Bruderkuss. Der Kuss zwischen Leonid Breschnew und Erich Honecker ist die Reproduktion einer Fotografie von Régis Bossu, die beim 30. Jahrestag der Gründung der DDR 1979 aufgenommen wurde. Ursprünglich entstammt der sozialistische Bruderkuss einem Begrüßungsritual zwischen einzelnen kommunistischen Gruppen, das später zu einem besonderen diplomatischen Ritual zwischen Staatsmännern der Sowjetunion wurde. Das Gemälde gehört zu den Bekanntesten der Gallery und wird auch auf Postkarten, Postern oder T-Shirts gedruckt. Es etabliert damit ein Bild in einem kollektiven Gedächtnis zur Mauerfallerinnerung durch die East Side Gallery, das für die Gesamtheit der Gallery steht und damit die anderen Werke überlagert. Ein Foto mit Breschnew und Honecker reicht also aus, um zu sagen: Ich war an der East Side Gallery!

„I’ve been looking for freedom!“ – David Hasselhoff, 1989.

Die Beständigkeit der Ignoranz (Foto: Louisa Goldstein)
Die Beständigkeit der Ignoranz (Foto: Louisa Goldstein)

Es ist nicht zu bewerten, ob dies gut oder schlecht, verkürzend oder ausreichend ist. Es lassen sich aber Vermutungen dazu anstellen, was dies über die Erinnerungskultur rund um die Gallery sagt. Die zunehmende Verkürzung bestimmter historischer Zusammenhänge, die einhergeht mit dem zunehmenden Zurückliegens ihres Geschehens, führt zur Ausbildung von Symbolbildern und -phrasen, die zusammenfassen und doch vieles dabei aussparen. Das Gemälde Louis XIV. im goldenen Prachtmantel steht für die Dekadenz der Monarchie (und wurde ebenfalls aufgenommen in der East Side Gallery); die Guillotine symbolisiert den Grand Terreur der Französischen Revolution; der Grenzsoldat, der den Stacheldraht überspringt, für den Drang nach Freiheit in einem repressiven Staat und die vor den Napalmangriffen der US-Amerikaner fliehende Phan Thi Kim Phúc, für die Schrecknissen der Zivilbevölkerung im (Vietnam)Krieg. Die Geschichte der Menschen lässt sich auf wenige ikonische Bilder herunter brechen, denen historische Ereignisse und extreme Emotionen eingeschrieben sind und die doch nur eine Ahnung der Komplexität offenbaren, die zu ihrer Entstehung geführt hat.

Kunterbunte Vielfalt (Foto: Louisa Goldstein)
Kunterbunte Vielfalt (Foto: Louisa Goldstein)

So wurde auch Wrubels Bruderkuss die Zusammenfassung einer Erinnerungsstätte, die nicht nur an den Fall der Mauer, sondern auch an das „friedliche Überwinden von Grenzen und Konventionen“ (so der Künstlerverein) erinnern will. Es lässt sich darüber streiten, ob ausgerechnet dieses Gemälde all diese Ansprüche in sich vereint, ob seine überspitze Farbgebung und satirische Namensgebung nicht eher Spott über die DDR ausschütten, als dem Einheitsbestreben ihrer Bevölkerung zu gedenken. Doch wie genau solche epochemachenden Bilder entstehen, lässt sich im Nachhinein nicht immer vollständig rekonstruieren. Fest steht nur, dass man sich an der East Side Gallery mehr Zeit nehmen sollte, als nur für das Selfie mit Leonid und Erich, um auch die anderen 100 Bildern auf sich wirken zu lassen und sich an der kunterbunten und stilistisch abwechslungsreichen Vielfältigkeit zu erfreuen, die Künstler aus der ganzen Welt mit dem Mauerfall und den damit verbundenen Hoffnungen, Schicksalen, Träumen und Wünschen verbinden.

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