2015 Aktuelles Juni 2015: Grenzüberschreitung

Vor und jenseits der Grenze – Eine psychologische Betrachtung

Grenzen sind unverzichtbar für unsere geistige Gesundheit (Bild: Christiaan Triebert / flickr.com unter CC BY 2.0)
Grenzen sind unverzichtbar für unsere geistige Gesundheit
(Bild: Christiaan Triebert / flickr.com unter CC BY 2.0)

Nicht nur, dass jeder Mensch sie hat – irgendwann stößt er auch an sie: Grenzen. Viele wollen das nicht akzeptieren und sehen daher einen besonderen Reiz in ihrer Überwindung. Gleichzeitig sind Grenzen aber auch unverzichtbar für die geistige Gesundheit.

Der Ausdruck „Persönliche Grenze“ bezeichnet jene Dimension, für die ein Individuum wünschenswerte Verhaltensweisen (insbesondere durch andere) definiert. Es legt also fest, welche Handlungen in der ihn unmittelbar betreffenden Sphäre erlaubt sind und welche nicht. Dieser Prozess vollzieht sich unbewusst und bei jedem mit unterschiedlichem Ergebnis.

Grenzen im Alltag

Wird das Mosaik individueller Normen missachtet, die persönliche Grenze also überschritten, stellt sich beim Menschen ein Gefühl des Unwohlseins ein. Das kann sich in Form von Ärger, Stress oder Angst äußern. So empfindet es der eine als respektlos, von Fremden geduzt zu werden, während der andere wiederum das Siezen für zu distanziert hält.

Jeder hat persönliche Grenzen. Da diese aber von Person zu Person unterschiedlich ausfallen, ist es gar nicht zu vermeiden, sie hin und wieder zu überschreiten. Niemand hat dieselbe Wahrnehmung darüber, welches Verhalten bei wem angebracht ist. Toleranz sorgt dafür, dass kleinere Grenzmissachtungen im Alltag bewältigt werden. Guten Freunden verzeiht man es daher schon einmal, wenn sie einem ins Wort fallen, obwohl man es generell als unhöflich empfinden mag.

Grenzen machen stark

Grenzen: ein Balanceakt zwischen Toleranz und Zurechtweisung (Bild: Josh Heald / flickr.com unter CC BY-NC 2.0)
Grenzen: ein Balanceakt zwischen Toleranz und Zurechtweisung (Bild: Josh Heald / flickr.com unter CC BY-NC 2.0)

Bei krassen und wiederholten Überschreitungen der persönlichen Grenze muss das Individuum allerdings intervenieren – seine Grenzen deutlich setzen und anderen gegenüber verteidigen. Dieses Vorgehen gilt also für den Extremfall: Nämlich dann, wenn die Regeln der persönlichen Sphäre bereits missachtet wurden.

Am besten ist es daher, persönliche Grenzen von Anfang an anderen gegenüber deutlich abzustecken und auch selber ein klares Bild von ihnen zu entwickeln. Dies ist einerseits reiner Selbstzweck: Das Individuum fühlt sich wohl und muss nicht befürchten, plötzlich negativen Gefühlen zum Opfer zu fallen. Die klare Artikulierung von Grenzen macht es stark, und Stärke attraktiv.

Andererseits profitieren auch die Menschen im Umfeld des Individuums davon: Sie wissen, mit wem sie es zu tun haben und wie sie sich verhalten können, Unsicherheit reduziert sich. Insgesamt stellen Grenzen also kein Zeichen der Schwäche dar, sondern ganz im Gegenteil: der Stärke. Schafft es das Individuum auf Dauer nicht, seine Grenzen aufrechtzuerhalten, kann es psychisch krank werden.

Menschen ohne Grenzen?

Mancher ist nicht in der Lage, anderen seine persönlichen Grenzen aufzuzeigen. Er lässt sich vieles gefallen und wirkt schwach. Womöglich hat das Individuum noch nie über seine Grenzen nachgedacht und muss sie selber noch entdecken. Verteidigt es seine persönliche Sphäre trotz eines vorhandenen Bewusstseins für sie nicht, kann dies entweder mit fehlender Konfliktbereitschaft oder einem geringen Selbstwert zusammenhängen.

Geht man Konfrontationen aus dem Weg oder nimmt andere Menschen und deren (Grenz-) Vorstellungen wichtiger als sich selbst und das eigene Wohlergehen, ist man natürlich nicht in der Lage, seine Grenzen angemessen zu verteidigen. Generell gilt also: Die Verdeutlichung und Artikulierung von Grenzen macht stark. Dennoch können sie auch negative Seiten haben – nämlich dann, wenn sie extreme Ausprägungen annehmen, und damit das eigene Verhalten einengen.

Freiwillige Grenzüberschreitung

Es gibt Menschen, die nicht zulassen wollen, dass ihr Leben von Grenzen beschnitten wird. Sie haben ein großes Verlangen nach Abenteuer und den Wunsch, sich selbst gesetzte, vor allem aber von Natur, Umwelt und Gesellschaft auferlegte Schranken zu überschreiten. Dabei ist diese Überwindung immer mit einem Risiko verbunden.

Tatsächlich ergeben sich Sinn und Reiz grenzüberschreitender Handlungen erst dadurch, dass ihr Vollzug durch ein Risiko gekennzeichnet ist. Das Individuum geht das Risiko ein, um die eigenen Fähigkeiten herauszufordern und ein Erfolgserlebnis zu haben. Nichts scheint befriedigender, als die Kräfte der Natur oder gesellschaftliche Rahmen zu besiegen. Diese Idee trifft gleichermaßen auf körperliche wie auf soziale Grenzüberschreitungen zu.

Das Kribbeln im Bauch

Ein Sprung aus schwindelerregender Höhe (Bild: kcshearon / flickr.com unter CC BY-NC-ND 2.0)
Ein Sprung aus schwindelerregender Höhe (Bild: kcshearon / flickr.com unter CC BY-NC-ND 2.0)

Bei einem Bungee-Sprung steht nicht die schöne Aussicht vom Absprungort für das Individuum im Mittelpunkt, sondern der Adrenalin-Kick, der dadurch ausgelöst wird, dass es physisch auferlegte Einschränkungen bezwingt. Nähert es sich einer liierten Person offensiv an und macht ihr Avancen, hat es nicht den persönlichen Gewinn durch ein gutes Gespräch im Kopf, sondern kostet es aus, etwas zu tun, was allgemein als unschicklich gilt.

Der Antrieb zur Grenzüberschreitung entsteht also, weil sich das Individuum gegen die Natur oder andere Personen durchsetzen will. Es hat das Ziel, selbst hervorgerufene Gefahrensituationen durch das eigene Verhalten zu meistern. Auf diese Weise entsteht das angenehme „Prickeln“ oder „Kribbeln im Bauch“ der Grenzüberschreitung – denn das Individuum kann sich nie zu hundert Prozent sicher sein, das Risiko erfolgreich zu meistern.

Grenzüberschreitungen und Grenzen – ein Fazit

Insgesamt zeichnet sich die Gefahrensituation einer Grenzüberschreitung dadurch aus, dass sie freiwillig eingegangen wird. Sie kann persönlich kontrolliert und beeinflusst werden und ist zeitlich begrenzt. Dazu hat das Individuum theoretisch jederzeit die Möglichkeit auszusteigen und kann sich auf die riskante Handlung vorbereiten. Auf die Grenzüberschreitung folgt im besten Fall soziale Anerkennung, entweder durch andere oder durch sich selbst.

Grenzen haben also ihre Sonnen- und Schattenseiten. Bewusste Grenzsetzung macht stark, gesund und attraktiv. Werden individuelle Grenzen überrollt und nicht verteidigt, kann dies einen Menschen auf Dauer krank machen. Zu extreme Grenzen wiederum engen und schränken ihn im Leben ein.

Die Überwindung physischer oder sozialer Grenzen kann für einen „Kick“ sorgen. Zu häufige oder krasse Grenzüberschreitungen können aber auch persönliche oder für andere negative Konsequenzen nach sich ziehen: Etwa, wenn man sich körperlich übernimmt oder durch unachtsames Verhalten soziale Beziehungen schädigt.

Wie fast immer, ist also auch beim Thema Grenze der goldene Mittelweg der richtige.

One thought on “Vor und jenseits der Grenze – Eine psychologische Betrachtung

  1. Hallo, Ich schreibe eine Arbeit über die Wahrnehmung von persönliche Grenzen bei Kindern in der Kita. Ich finde diesen Artikel sehr interessant und passend. Leider habe ich keine Quellenangabe gefunden. Ich würde mich freuen, wenn Sie mir eine Literaturempfehlung dafür geben könnten.
    Liebe Grüße, F. Glatigny

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