2015 Aktuelles Juni 2015: Grenzüberschreitung

Bildungspolitik – Wer arm ist, muss draußen bleiben

 

Bildung und sozialer Aufstieg sind untrennbar miteinander verknüpft. Bild: Alan Levine / flickr.com unter CC-BY 2.0
Bildung und sozialer Aufstieg sind untrennbar miteinander verknüpft.
Bild: Alan Levine / flickr.com unter CC-BY 2.0

Deutschland gehört zu den führenden Industrieländern der Welt. Trotzdem bleiben Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Familien auf der Strecke, denn Bildung können sie sich einfach nicht leisten. 

In Indien bestimmt ein so zufälliges Ereignis wie die eigene Geburt über das gesamte Leben. Die Wahl des Berufs, des Ehepartners, das Ansehen in der Gesellschaft – alles ist durch etwas geprägt, für das man selbst keine Verantwortung trägt. Trotz aller Bemühungen, dem Kastensystem entgegenzuwirken, sind die Angelegenheiten um „roti aur beti“, also was „Brot und Tochter“ betrifft, weiterhin von althergebrachten Modellen beeinflusst. Der Stand in der Gesellschaft ist gegeben und unveränderlich. In eine gute Familie geboren zu werden und ein Leben in Wohlstand zu führen, gleicht der Wahrscheinlichkeit, in der Lotterie zu gewinnen.

Hierzulande kann man über solche Zustände nur den Kopf schütteln. In Deutschland könnte solch eine Gesellschaft, in der man nicht frei über die eigene Zukunft entscheiden kann, niemals existieren. Oder etwa doch?

Die Lüge von der Chancengleichheit

Jüngst titelte das Magazin “Der Spiegel” in der Ausgabe 20/2015: „Die Lüge von der Chancengleichheit – warum schon die Geburt über die Bildung und Aufstieg entscheidet“. Laut den Autoren werde der soziale Aufstieg „zum leeren Versprechen“, Deutschland entwickle sich zu einer Klassengesellschaft, in der die Trennung zwischen Ober-, Mittel- und Unterschicht an die „Feudalgesellschaft früherer Jahrhunderte“ erinnere. Symptome dieser Gesellschaft seien sowohl verspätete Lernerfolge bei Kindern aus sozial schwachen Familien als auch eine höhere Wahrscheinlichkeit von gesundheitlichen Problemen oder von Gewalttaten betroffen zu sein. Die Möglichkeit, Bildung zu erwerben und dem sozialen Milieu zu entkommen, sei enorm eingeschränkt. Kinder aus bildungsfernen Familien hätten eine viel geringere Chance später ein Studium zu ergreifen als ein Kind aus einer Akademikerfamilie.

Das ist allerdings nicht das Ergebnis einer Politik, der die Bildung des Nachwuchses gleichgültig ist: Laut der “FAZ” haben Bund, Länder und Gemeinden im Jahr 2013 etwa 117 Milliarden Euro in den Bildungshaushalt investiert. Im Vergleich zum Vorjahr sind das zwar 4,6 Milliarden mehr. An den Mitteln allein liegt es also nicht. Die “Spiegel”-Autoren sehen das Problem vielmehr in der widersprüchlichen Zielsetzung der Politik. Man müsse sich darüber einig sein, ob man die Infrastruktur der Bildungsangebote ausbauen wolle oder die direkte Geldauszahlung an die Familien. Obwohl zum Beispiel die Diskussion um die Zahl der Kita-Plätze kein Ende nehme, werde nun in Form des Betreuungsgeldes eine Prämie dafür gezahlt, wenn Eltern ihre Kinder zuhause behalten anstatt sie in die Kita zu schicken. Davon profitieren jedoch weder die Kinder noch die Eltern, denn wer sich um ein Kind kümmern muss, kann gleichzeitig nicht arbeiten gehen oder an Weiterbildungsmaßnahmen teilnehmen. Die Bildungssituation stagniert.

Bildung kostet ein Leben lang

 

Geld ist die Grundlage für weiteres Wachstum. Bild: Pictures of Money / flickr.com unter CC-BY 2.0
Geld ist die Grundlage für weiteres Wachstum.
Bild: Pictures of Money / flickr.com unter CC-BY 2.0

Fakt ist, dass Bildung kostet. Kita-Plätze, vor allem private, verschlingen im Jahr mehrere hundert Euros. In der Schule geht es weiter: Bücher, Schreibmaterial, Klassenfahrten, Kleidung für den Sportunterricht, Nachhilfe, all das will bezahlt werden. Auch ein Studium ist ohne Geld undenkbar: Wer studiert weiß, dass ein Laptop mit Internetzugriff der Mittelpunkt des Lernens und Schreibens darstellt. Weiter geht es mit Exkursionen, einer Wohnung in Uninähe, Auslandserfahrungen; die Ausgaben nehmen kein Ende. Auch fachspezifisch warten finanzielle Überraschungen: Wer beispielsweise Architektur studiert, darf sich darauf gefasst machen, dass das gesamte Material meist selbst bezahlt werden muss; Studierende der Chemie oder der Physik müssen Laborutensilien, die bei Versuchen zu Bruch gehen, aus eigener Tasche bezahlen.

Aber BAföG, so der Einspruch, helfe doch den meisten Studierenden über die Runden zu kommen und werde im Wintersemester 2016 nochmals erhöht. Dennoch gibt es genug Studenten, die den Höchstbetrag erhalten und das Studium trotzdem nicht bezahlen können. Also heißt es, sich einen Job zu suchen. Ob die Regelstudienzeit neben Arbeit und Lernen noch eingehalten werden kann oder die Noten darunter leiden, steht auf einem anderen Blatt. Der finanzielle Druck auf den Bildungswilligen wächst und wächst.

Die Illusion der kostenlosen Bildung

Dabei wird es doch in der heutigen Zeit, so könnte man argumentieren, immer leichter sich zu bilden. Informationen befinden sich im freien Fluss, Fernsehen, Radio und das Internet hat doch jeder. Eine andere Perspektive eröffnet die Bertelsmann Stiftung 2013 in einer Befragung mit über 14.000 Personen. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass eben nicht jeder über einen Zugang zu Bildungsangeboten verfügt: 13,9 Prozent der Befragten, die aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit staatliche Förderung erhalten, können sich keinen Computer mit Internetanschluss leisten. Über die Hälfte – 54,3 Prozent – kann nicht mindestens einmal im Monat kulturelle Veranstaltungsorte wie Kino, Theater oder Konzerte besuchen. Auch öffentlich-rechtliche Angebote sind nicht kostenlos, der monatliche Rundfunkbeitrag beträgt 17,50 Euro. Das mag kein Vermögen sein; für Hartz IV-Empfänger stellt aber auch das merklich Einbußen dar.

Bei den ersten Gehversuchen können die Eltern noch helfen. Wenn es um Bildung geht, ist besonders die finanzielle Unterstützung gefragt. Bild: Petr Dosek / flickr.com unter CC-BY 2.0
Bei den ersten Gehversuchen können die Eltern noch helfen. Wenn es um Bildung geht, ist besonders die finanzielle Unterstützung gefragt.
Bild: Petr Dosek / flickr.com unter CC-BY 2.0

Die Tore nach Akademie werden an anderer Stelle geöffnet. Mittlerweile ist es möglich, auch ohne Abitur zu studieren. Laut dem Online-Portal studieren-ohne-abitur.de gibt es derzeit bundesweit rund 46.000 Menschen, die diesen Weg einschlagen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Zugang zur Bildung an der falschen Stelle gelockert wird. Warum wird nicht darin investiert, dass jeder, der es möchte, sein Abitur schafft, anstatt die Hürde des Abiturs wegfallen zu lassen und somit die Qualifikation der Allgemeinen Hochschulreife infrage zu stellen? So wird die Studentenzahl in die Höhe getrieben, während man Studierende ohne Abitur oder Fachhochschulreife in der neuen Situation alleine lässt und damit hohe Abbruchquoten riskiert.

Für einige ist es eine Chance, dass der Zugang zum Studium auf diese Weise geöffnet wurde – aber wäre ein systematisches Umdenken nicht sinnvoller? Eine Förderung, die früh anfängt und die Familie nicht finanziell belastet; Schulen, die Gemeinsamkeiten herstellt, anstatt die finanziellen Unterschiede zu betonen; ein Studium, das für jedermann offen ist, der ernsthaft an dem Fach interessiert ist, unabhängig von sozialer Herkunft und Einkommen der Eltern. Sicher, das mag Zukunftsmusik sein. Begrenzungen der Bildungsangebote existieren und werden nicht in Kürze abgeschafft. Und natürlich kann und will nicht jeder einen akademischen Abschluss erreichen. Wünschenswert wäre aber eine Gesellschaft, in der nicht das System den sozialen Aufstieg verhindert und die Geburt über das restliche Leben bestimmt. Eine Gesellschaft, in der man nicht daran gehindert wird, Bildung zu erwerben; in der man einfach am kafkaesken Wärter vorbei geht, weil die Tür offen ist. Man muss sich nur entscheiden, durch sie hindurch zu gehen.

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