Mai 2016: Im Verborgenen

Der Mensch von nebenan: Das letzte große Mysterium

Bild: “Stand up, goodmorning/ carlomueller/flickr.com unter by-nc
Bild: “Stand up, goodmorning/ carlomueller/flickr.com unter by-nc

Wenn es in Fernsehsendungen um Verborgenes geht, wird es meistens mysteriös. Dann geht es tief hinein in einen dunklen Wald oder man taucht ab in die unerforschten Schluchten der Meere.


Da mein NRW-Ticket nicht für eine Fahrt an die Küste reicht und ich im Wald alleine Angst bekomme, habe ich über Verborgenes in meiner näheren Umgebung nachgedacht. So richtig konzentrieren konnte ich mich aber leider nicht, denn mein Nachbar aus der Wohnung unter mir hat vor einer Woche angefangen Saxophon zu spielen.

Sein Repertoire beschränkt sich bisher auf den Simpsons-Theme-Song und eine zweite, noch undefinierbare, Melodie. Zugegeben, das ist ziemlich nervig. Aber einfach runtergehen und meinen Nachbarn persönlich fragen, was das sein soll und wie lange das noch dauert ist keine Option. Ich weiß doch gar nicht, wer er ist.

Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Es gibt etwas in meiner Umgebung, über das ich rein gar nichts weiß, das verborgen und mir völlig unbekannt ist: Meine Nachbarn.

Der Nachbar – eine kaum erforschte Spezies

Aufgewachsen in einer Kleinstadt am Niederrhein, ist es für mich eine völlig neue Erfahrung, keinen einzigen meiner Nachbarn im Mietshaus zu kennen. In der Heimat werden Straßenfeste gefeiert, die Nachbarn zum Grillen eingeladen oder Werkzeuge und Eier ausgeliehen. Durch meinen Umzug nach Bonn ließ ich dieses altbekannte Gefüge zurück – und lernte schnell, dass hier alles anders ist.

Kurz nach meinem Einzug in die neue Wohnung brauchte ich einen Dosenöffner, in den Schubladen meiner spärlich ausgestatteten Küche war keiner aufzutreiben. In heimatlicher Tradition begann ich, an den benachbarten Türen zu klingen, um nach einer Leihgabe zu fragen. Die Ausbeute war: Enttäuschend. Keiner hatte mir aufgemacht. Waren wirklich alle unterwegs oder hatte einfach nur niemand Lust, mir einen nachbarschaftlichen Freundschaftsdienst zu erweisen?

Bild: Lore/flickr.com unter by-nc-sa
Bild: Lore/flickr.com unter by-nc-sa

Nach mehr als zwei Jahren sind diese Menschen, mit denen ich unter einem Dach lebe, immer noch völlig Fremde. Mehr als ihre Nachnamen, natürlich nur vom Klingelschild abgelesen, kenne ich nicht. Doch trotz dieser absoluten Anonymität, bekomme ich so einiges von ihnen mit. Ich weiß zum Beispiel, was es bei meinen Nachbarn aus dem ersten Stock zum Abendessen gibt,  rieche ich es doch im Treppenhaus, wenn ich hungrig von der Uni komme.

Ich weiß, dass sich das Pärchen von nebenan ständig lautstark streitet, obwohl ich ihnen im Treppenhaus immer händchenhaltend begegne. Im gemeinschaftlichen Waschkeller hängen bunte Unterhosen und Babystrampler, der Nachbar unter mir muss morgens nach dem Aufstehen erstmal fünf Minuten Techno hören, um wach zu werden und auf der Fußmatte im Erdgeschoss steht „Bochum, ich komm aus dir.“ – Aha, also jemand aus dem Pott.

Doch ich weiß, dass ich nichts weiß

Doch so viel ich auch über sie zu wissen scheine, eigentlich ist das nichts. Viele von ihnen würde ich noch nicht einmal auf offener Straße wiedererkennen, ohne dieses ganz bestimmte Licht in unserem Treppenhaus. Wer sind diese Menschen, was machen sie den ganzen Tag, was bewegt sie? Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Manchmal spüre ich ein kleines Zucken im Finger, würde am liebsten raus aus der Wohnung, an einer beliebigen anderen Tür klingeln, mich in die fremde Küche setzen und fragen, wie es den Bewohnern heute so geht.  Unrealistischer Plan – ich weiß.

Andererseits ist es doch auch ganz spannend, nicht alles über die Nachbarn zu wissen. Warum sich das Pärchen aus dem zweiten Stock letzten Monat getrennt hat, will ich vielleicht auch gar nicht erfahren. Manchmal sind es doch gerade diese Geheimnisse des Verborgenen, die die eigene Phantasie beflügeln und eine Grundlage für die wildesten Vermutungen bieten.

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