Die Black-Lives-Matter-Bewegung hat Mitte dieses Jahres einen internationalen Boom erfahren. Ausgelöst durch drastische Videoaufnahmen, die den Mord eines Afroamerikaners durch einen weißen Polizisten in den USA zeigen. Die Bilder gehen viral – Social Media wird zum Austragungsort einer hitzigen Rassismus-Debatte – entschlossener Aktivismus oder performative Selbstinszenierung?
Von Paul Mess
Eigentlich konsumiere ich Instagram, um mir hin und wieder den Eindruck einer farbenfroh glücklichen und heilen Welt abzuholen – zwischen träumerischen Selfies, malerischen Reisefotos, viralen Trend-Challenges und üppigen Mittagessen, die viel zu hübsch drapiert dastehen, um sie wirklich verzerren zu wollen.
Am 2. Juni dieses Jahres blicken mich jedoch keine hübschen Gesichter, vegane Currys, idyllische Strandlandschaften oder Bottle-Flip-Videos an. Stattdessen starre ich auf unzählige eintönig schwarze Kacheln, die Instagrams gesamte Chronik spicken. Unter den schwarzen Quadraten schlummern die Hashtags #blackouttuesday oder #blacklivesmatter.

Ich stutze, verstehe aber sofort den Hintergrund. Eine Antwort auf den in der vergangenen Woche geschehenen Mord an dem Afroamerikaner George Floyd durch einen weißen Polizeibeamten in den USA – wieder einmal. Nur diese Tat wurde mitgefilmt. Die Aufnahmen gehen um die Welt. Infolgedessen brechen in den USA heftige, teils gewaltsame Ausschreitungen und Proteste aus. Überraschen tut das kaum. Rassismus ist dort noch immer ein strukturelles Gesellschaftsproblem. Der Schmerz sitzt tief. Die USA, von denen Martin Luther King vor über 50 Jahren träumte, gibt es nicht. Stattdessen brennen sie nun.
„Racism is not getting worse. It’s getting filmed.”
In den Medien wurde in den letzten Jahren vermehrt von Morden an Schwarzen durch weiße Polizisten in den USA berichtet. Rassismus ist nichts Neues auf der Agenda medialer Berichterstattung, jene Posts auf Instagram aber schon.
Will Smith hat den Nagel auf den Kopf getroffen: “Racism is not getting worse. It’s getting filmed.”
Dieses Mal schlägt die Debatte jedenfalls größere Wellen. Ich tippe die Hashtags in die Google-Suchleiste. „Black Lives Matter“ ist eine Bewegung, die schon 2013 in den sozialen Medien gewachsen ist – in Folge eines Freispruchs nach dem Todesfall eines afroamerikanischen Teenagers. Der „Blackout Tuesday“ allerdings ist neu. Eine Erfindung der Musikindustrie zum Aufruf des stillen Innehaltens, des Solidarisierens und der Rückbesinnung zur Gesellschaft. Ein Aufruf der international viral geht. Die Anteilnahme scheint dieses Mal viel größer – auch Prominente, Unternehmen und Organisationen verteilen die schwarzen Kacheln im Internet.
Social Media spült die Rassismus-Debatte rasend schnell über den atlantischen Ozean und plötzlich scheint auch hier der Corona-Wahnsinn ein wenig beiseitegeschoben. In deutschen Großstädten gehen Zehntausende auf die Straße, um gemeinsam friedlich gegen Rassismus einzustehen. Die Gesichter mit Mund-Nasen-Masken bedeckt, werden Pappkartons und Schilder mit den Aufschriften „I can´t breathe“, „black lives matter“ oder „white silence is violence” hoch in die Luft gehalten. Das erste Mal scheint sich die weiße Bevölkerung zum Thema zu äußern. Eine hitzige Debatte zum Rassismus in Deutschland tritt sich los.
Social-Media-Plattformen werden zu Austragungsorten wilder Meinungsdebatten
Was im Netz begonnen hat, bleibt dort zu großen Teilen, nimmt an Fahrt auf, schaukelt sich hoch und verschiebt den Diskurs zuweilen auch. Tage später geht es nicht mehr nur noch um das Problem strukturell rassistischer Tendenzen. Es geht um Polizeigewalt im Allgemeinen, um Staats- und Systemkritik. Immer mehr (völlig kontextlose) Videoschnipsel polizeilicher Gewaltausübung tauchen auf, deren Herkunft, Hintergründe, geschweige denn Datierungen weder bekannt noch beigefügt sind. Social-Media-Plattformen wandeln sich zu Austragungsorten wilder Meinungsdebatten. Das eigentliche Problem versackt im Hintergrund.
So war es bereits bei den Posts der schwarzen Kacheln. Denn durch den globalen Instagram-Blackout wurde die eigentliche Debatte blockiert bzw. überdeckt, sodass AktivistInnen, die sich nicht seit gestern, sondern seit Jahren gegen Rassismus einsetzen, keinen Zugriff auf wertvolle Informationen zum aktuellen Geschehen der Proteste und zu Veröffentlichungen weiterer rassistischer Vorfälle hatten. Sich der Sache anzunehmen, kann ihr gleichzeitig schaden. Dabei könnten Instagram, Twitter, Facebook und Co unglaublich wirkungsvolle Wissensmultiplikatoren darstellen und UnterstützerInnen könnten ihre Narrative ohne die traditionellen Mainstreammedien in die Welt streuen. Wenn sie denn nur sinnvoll genutzt würden. Was aber können rasche Posts oder flüchtige Instagram-Stories der Otto-NormalnutzerInnen schon bewirken? Tragen sie zu nachhaltigen Veränderungen bei?
„Slacktivism“ ist der Begriff für den bequemen Online-Aktivismus vom Sofa. KritikerInnen unterstellen hier schon länger, dass eine solche Form der Beteiligung keinen politischen oder sozialen Einfluss auf die reale Welt hätte. In dem Zusammenhang sollte umso mehr die Frage gestellt werden, ob hinter derartigen viralen Instagram-Trends ernsthafte aktivistische Absichten oder vielmehr performative Selbstinszenierungsstrategien stecken.
Denn auch InfluencerInnen und Marken nutzen den Zustand zur Vermarktung der eigenen Sache. Einige heucheln Protest-Engagement vor, indem sie sich für ein Lifestyle-Foto posierend, mit einem hastig geschriebenen Pappschild in die Masse der demonstrierenden Leute stellen, andere schminken sich die Worte „I can´t breathe“ oder „BLM“ („Black Lives Matter“) ins Gesicht. Wieder andere färben sich ihres schwarz, um der Sache beizuwohnen.
Innerhalb der digitalen Sphäre Eindruck schinden bei Freunden und Bekannten? Oder mehr einfordern. Auf die Straße gehen. Problembewusstsein zeigen. Protestieren. Verändern. Für die Sache einstehen. In der echten, physischen Welt. Gemeinsam. Und vor allem andauernd?
Medienereignis „Black Lives Matter“?
Zumindest in Teilen war auch das bisher zu beobachten. Menschen mobilisieren sich und demonstrieren. Viele US-amerikanische Unternehmen überdenken ihre Wertehaltung, strukturieren ihre Werbe- und Produktpolitik um. Große Sportvereine ändern sogar den Namen. Ein Anfang zumindest, aber längst überfällig. Ein paar Wochen später scheint jedoch auch das Medienereignis um „Black Lives Matter“ langsam abzuklingen.
Es bleibt also dringend zu beobachten, was die Zukunft bringt. Wie nachhaltig Diskurs geführt wird und wie aktiv und partizipativ Rassismus weiterhin bekämpft wird – überall auf der Welt. Und es bleibt noch dringender die Zukunft mitzugestalten und strukturelle Veränderungen voranzutreiben. Den Blick zu öffnen, auf die reale Welt zu schauen, in der institutioneller Rassismus tatsächlich existiert. Nicht in seiner Komfortzone, in Form einer digitalen Social-Media-Blase, zu verweilen, deren Echoraum genau die Wirklichkeit widerspiegelt, die wir selbst gerne konsumieren. Und es bleibt am dringendsten, nicht nur sichtbarzumachen, sondern aktiv dran zu bleiben, denn ganz im Sinne der Feed-Ästhetik sind sogar jetzt schon die ersten schwarzen Kacheln auf den ein oder anderen Instagram-Profilen schon längst der Vergangenheit angehörig.
Beitragsbild: Life Matters/ Pexels
Quellen:
https://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/wohlfuehlen-im-echoraum-1416/
(letzter Aufruf: 24.07.2020)
https://netzpolitik.org/2016/studie-social-media-und-die-black-lives-matter-bewegung/
(letzter Aufruf: 18.07.2020)
https://www.politik-digital.de/news/die-digitale-protestkultur-engagement-auf-dem-sofa-154001/
(letzter Aufruf: 15.07.2020)
(letzter Aufruf: 24.07.2020)
(letzter Aufruf: 23.07.2020)
https://www.sueddeutsche.de/digital/social-media-proteste-inszenierung-1.4929485
(letzter Aufruf: 23.07.2020)
(letzter Aufruf: 24.07.2020)
https://www.vogue.de/lifestyle/artikel/black-lives-matter-mehr-als-social-media-aktivismus
(letzter Aufruf: 24.07.2020)
https://de.wikipedia.org/wiki/Slacktivism
(letzter Aufruf: 23.07.2020)